Das Theaterstück La huida del Inca schrieb Mario Vargas Llosa 1951, also mit 15 Jahren, um es bei einem Wettbewerb des peruanischen Erziehungsministeriums einzureichen. Es wird im Jahr darauf mit dem zweiten Platz ausgezeichnet; schon vorher kommt es zur Aufführung: Nach seinem Wechsel an das San-Miguel-Gymnasium in Piura im Frühjahr 1952 zeigt der Jugendliche seinem Literaturlehrer José Robles Rázuri den Text, worauf dieser eine Inszenierung im Varieté-Theater (an Avenida Grau/Ecke Jiron Junin) anregt. Die neun Rollen übernehmen Mitschüler und zwei Mädchen, die in der Stadt für ihr gesangliches bzw. schauspielerisches Talent bekannt waren. Die Premiere am 17. Juli im Rahmen der Festwoche von Piura findet so viel Zuspruch, dass die Aufführung zweimal wiederholt wird. Es ist das erste öffentliche Werk des Schriftstellers.
Das Stück gilt heute als verschollen – womöglich absichtlich, denn Vargas Llosa nennt es später „eine Schauergeschichte“, an die er sich lieber nicht erinnern wolle,1 mit dem „abschreckenden Untertitel Inka-Drama in drei Akten, mit Prolog und Epilog aus der Gegenwart.“2 Sein Inhalt lässt sich aus Äußerungen von Walter Palacios Vinces3, einer der Mitspielenden und damals eine Klasse unter Mario, teilweise rekonstruieren: Schauplatz ist das Hochland um Cusco, der einstigen Hauptstadt der Inkas. Ein junger Schriftsteller tritt auf und fragt einen alten Mann, wie er zurück nach Cusco finden kann. Bevor dieser den Weg erklärt, erzählt er eine Legende aus der Endphase des Inkareichs Tawantinsuyu (vier Erdteile). Im Mittelpunkt stehen der Inkaherrscher – gemeint sein könnten Pachakutiq Yupanki aus dem 15. Jahrhundert oder der von den Spaniern besiegte Atahualpa – und sein Bruder Urco, der am Stamm der Rumis Gräueltaten begeht und deren Siedlungen anzünden lässt. Eine dabei gefangen genommene junge Priesterin (Vestalin) und der Inkakönig verlieben sich, ihre Leidenschaft äußert sich in einer Kussszene. Urco lässt jedoch die Geliebte unter Mithilfe eines Priesters beseitigen, bevor sie dem Herrscher die Schreckenstaten berichten kann. Allerdings setzt eine andere Vestalin den Inka davon in Kenntnis, sodass dem Bruder eine Bestrafung droht. Schließlich spielt noch Urcos Sohn Untar Rolle, dem eine Zukunft als großer Krieger beschieden ist.
Walter Palacios spielt den komplizenhaften Priester. Er erinnert sich: „Bei einer der ersten Proben, als ich an der Reihe war, begann ich sehr vorsichtig meine Rede zu halten, und Mario unterbrach die Probe und sagte zu mir: ‚Nein, nein Walter, nicht so. Du bist kein Priester, kein ernsthafter Mensch. Du bist ein Schamane, ein Zauberer, ein Hexenmeister, deshalb muss dein Auftritt eine Farce sein.‘ Und er selbst beginnt zu laufen, kleine Sprünge zu machen, grotesk zu gestikulieren. (…) Wir alle akzeptierten und befolgten seine Anweisungen mit Disziplin.“ – So bruchstückhaft die Informationen über diese Handlung sind, kann man doch rudimentär angelegte Konstellationen erkennen, die in späteren Werken wiederkehren: eine Gemengelage aus Staatsgewalt, Verheimlichung, Verrat und grenzüberschreitender Liebe. Bemerkenswert auch, dass wie in den nachfolgenden Romanen ein Schriftsteller im Stück auftritt.
Vargas Llosa begann seine Schriftstellerkarriere also nicht mit der Gattung Roman, durch die er berühmt wurde. Das Theater sei seine „erste literarische Vorliebe“ gewesen, schon als Kleinkind in Cochabamba machten ihm leibhaftige Darsteller mehr Eindruck als solche auf der Kinoleinwand4. Als Jugendlicher in Lima, während der Zeit an der Kadettenschule, sah er samstags gelegentlich Aufführungen im Teatro Segura, im Städtischen Tehater oder an der Staatlichen Schauspielschule. Eine davon war Arthur Millers Tod eines Handlungsreisenden. Dies habe „einen so überwältigenden Eindruck“ in ihm hinterlassen, dass er daraufhin das Bühnenspiel über die Inkas schrieb, berichtet der Literaturnobelpreisträger und mutmaßt: „Hätte es im Lima der fünfziger Jahre neue Strömungen im Theaterbereich gegeben, wäre ich Dramaturg statt Romancier geworden. Doch es gab sie nicht, und das führte wohl dazu, dass ich mich mehr und mehr der erzählenden Prosa zuwandte. Trotzdem nahm meine Liebe zum Theater nie ab, hingekauert döste sie im Schatten meiner Romane, Versuchung und Nostalgie zugleich, vor allem, wenn ich irgendein besonders beeindruckendes Stück sah.“5 Erst Anfang der 80er Jahre erscheint ein Theaterstück von ihm (La señorita de Tacna) und 2015 – mit 78 Jahren – spielt er selbst bei einer Bühnenfassung von Novellen aus Boccaccios Decamerone, die er arrangiert hat, im Madrider Teatro Español mit.
- Mario Vargas Llosa: Der Fisch im Wasser. Suhrkamp, 1993, S. 250. ↩︎
- Ebenda S. 156. ↩︎
- Nach Raul Fernando Moscol Leon, 2010, http://rafemole-literaturapiurana.blogspot.com/2010/10/vargas-llosa-2-san-miguel-y-la-huida.html ↩︎
- MVLL: Fisch im Wasser, S. 154. ↩︎
- Mario Vargas Llosa – Nobelvorlesung ↩︎