Der literarische Horizont des Jugendlichen weitet sich, als er Anfang 1952, also kurz bevor er 16 wird, bei der Zeitung La Cronica in Lima jobbt. Der dortige Kulturredakteur Carlos Ney Barrionuevo empfiehlt ihm den peruanischen Dichter César Vallejo, nordamerikanische Romanciers der „lost generation“ oder Werke von André Malraux, wälzt mit ihm nachts in den Spelunken der Altstadt poetische Themen und schenkt ihm den Erzählband Die Mauer von Jean-Paul Sartre. Die damit beginnende Beziehung zum Denken des französischen Autors sollte entscheidend für Mario Vargas Llosa werden. Sartres Credo war, dass Literatur die Welt verändert, sich also eben nicht in Weltflucht erschöpft, wie es bisher dem jungen Leser und Poeten schien. Zugleich verkörpert der Franzose die Rolle des öffentlichen Intellektuellen, das heißt des politisch Partei ergreifenden Publizisten, der Vargas Llosa später ebenfalls wird.

Mit Politik ist der Junge bislang gelegentlich in Berührung gekommen. Familienmitglieder hört von einem politisch bedeutenden Verwandten sprechen: José Luis Bustamente y Rivero, der 1945 peruanischer Präsident wird und den Großvater zum Präfekten in Piura ernennt. Als Zehnjähriger erlebt er, wie Pedro Llosa das Amt zeremoniell ausübt, er bekommt mit, wie dieser von Anhängern der sozialdemokratischen Partei Apra geschmäht wird, nachdem die Koalition zwischen Bustamente und den Apristen zerbrochen ist, und er erfährt natürlich auch, dass der Großvater sein Amt wieder verliert, weil 1948 der General Odria die Regierung Bustamente stürzt, um in Peru eine Militärdiktatur zu errichten.

Politisiert wird Mario aber erst, als er 1952 nach Piura zurückkehrt, in der Abschlussklasse der Oberschule Interesse für politische Ökonomie gewinnt und bei seinem Onkel die Autobiographie des Kommunisten und Agenten Jan Valtin liest. Er sympathisiert nun mit dem Marxismus, organisiert einen Schulstreik und schließt sich im Folgejahr als Student an der San-Marcos-Universität in Lima einer Untergrundzelle („El Grupo Cahuide“) an, die den Kommunismus in Peru reorganisieren will und in der er mit zwei engen Freunden (Lea Barbel und Felix Arias Schreiber) die Schriften von Lenin, Marx, Engels und Hegel oder José Carlos Mariátegui (der 1928 die Kommunistische Partei in Peru gegründet hatte, bevor diese in den Rechtsdiktaturen zerfiel) studiert. Der Sozialismus erscheint ihm die Antwort auf die Ungleicheit im Land, das Nebeneinander von extremer Armut und einer Schicht von Reichen. Er beteiligt sich an Flugblattaktionen, wirkt beim Revolutionsblättchen der Cahuide mit, sucht den Schulterschluss zu streikenden Straßenbahnfahrern und lässt sich als Studentenvertreter in die Verbands- und Fakultätsgremien wählen.

In dieser Funktion sucht mit einer Abordnung den Sicherheitschef der Regierung, Esparza Zañartu, auf, um Erleichterungen für inhaftierte Kommilitonen zu erwirken. Der weithin gefrüchtete Funktionär erscheint, im Kontrast zu seinem Ruf, als eine klägliche und banale Person: „Dieses lederne, gelangweilte Gesicht habe ich nie vergessen“, schreibt Vargas Llosa später, „er war ein lächerliches Männchen (…) bescheiden gekleidet, mit schmalem, eingefallenem Körper“ und „sprach mit einer dünnen Stimme ohne Akzente und Nuancen, mit der sprachlichen Armut und Fehlerhaftigkeit einer Person, die seit ihrem Schulbesuch nie wieder ein Buch gelesen hat“ (FW S. 311 f.). Das Anliegen der Studenten verwirft der Apparatschik, indem er, ohne überhaupt darauf einzugehen, einige Cahuide-Hefte aus seinem Schreibtisch hervorzieht, mit erhobener Hand damit fuchtelt und den jungen Leuten droht, solche Agitationen zu unterlassen. Noch auf dem Rückweg nimmt sich Vargas Llosa vor, einen Roman über diese Figur zu schreiben. Er setzt den Entschluss in seinem zweiten Prosawerk Das Gespräch in der „Kathedrale“ um, das 1969 erscheint. Schon sein erster Roman Die Stadt und du Hunde enthält eine Szene, die von dieser Begegnung inspiriert ist: Als der Kadett Alberto der Schulleitung den mutmaßlichen Mörder melden will, kramt der General Blätter mit pornografischen Texten aus der Feder von Alberto hervor, um ihn zum Schweigen zu bringen.

Das Pendel schlägt also in Mario Vargas Llosas 16. und 17. Lebensjahr, 1953/54, zur politischen Aktion und zum Linksextremismus aus – um bald wieder zurückzuschwingen. Er wird gelangweilt vom Dogmatismus der Cahuide-Mitglieder, die tagelang darüber diskutierten, ob Artikel in ihrer Untergrundzeitung namentlich gekennzeichnet werden dürfen oder nicht, und von ihrer Präferenz für den sozialistischen Realismus. Im Streit über den sowjetischen Schriftsteller Alexander Ostrowskis bzw. dessen Roman Wie der Stahl gehärtet wurde wirft ihm einer der Genossen vor, ein „Untermensch“ zu sein. „Ich konnte niemals die absurden Postulate des sozialistischen Realismus akzeptieren, die das Moment des Geheimnisvollen ausschalteten und die literarische Tätigkeit in eine propagandistische Übung verwandelten“, erklärt Vargas Llosa rückblickend.5 In seinen ersten Semestern liest er Sartres Zeitschrift Les Temps Modernes und ist hingezogen zu französischen Autoren wie André Gidé, Albert Camus und Antonie de Saint-Exupéry und absolviert an der Alliance Francaise Französischkurse, um diese Autoren im Original lesen zu können. Mitte 1954 zieht er sich von den „Cahuide“-Mitstreitern zurück, denn „ich glaubte schon lange kein Wort mehr von unseren Klassenanalysen und unseren materialistischen Interpretationen, die mir (…) kindisch erschienen, ein Katechismus aus Stereotypen und Abstraktionen, aus Formalien (…), die wie Joker benutzt wurden, um die widersprüchlichsten Dinge zu erklären“ Der Hauptgrund sei aber gewesen, dass er wegen seines „widerspenstigen Naturells“ nicht imstande gewesen sei, „den der Organisation sklavisch ergebenen revolutionären Parteikämpfer zu verkörpern“ (FW S. 318).

Politisch engagiert sich der Student weiterhin, nimmt mit Javier Silva, dem politisch aufgeweckten Freund aus Piura, an Spontankundgebungen rund um den Campus teil, aber nun im Sinne von Demokratie und Rechtstaatlichkeit gegen das Odria-Herrschaft, die an Durchsetzungsfähigkeit verliert, bevor sie 1956 abgelöst wird. In der Zeit bildet sich die Christdemokratische Partei, der Vargas Llosa beitritt und für ihr Organ schreibt, obwohl ihr bürgerlich-kirchennahes Milieu dem „sartreschen Pfaffenfresser“ und „Linkssympathisanten“, als der er sich fühlt, fernliegt. In dieser Partei bündeln sich aber Strömungen, insbesondere aus Arequipa, die der Linie des früheren liberalen Präsidenten und Llosa-Verwandten Bustamente enstprechen.

Die San-Marcos-Universität ist in jener Zeit nicht nur „der Herd und der Kanalisator“ politischer Proteste, sondern auch Zentrum für die Literaturszene. Im pitoresken Innenhof der philosophischen Fakultät rezitieren „potentielle und virtuelle Dichter und Erzähler des Landes“ ihr meist unveröffentlichten Texte, unter ihnen Carlos Zavaleta. Durch ihn wird Vargas Llosa auf den US-amerikanischen Romancier William Faulkner aufmerksam. Diesen Autor hat Vargas Llosa nach eigenem Bekunden während seiner Studentenzeit neben Sartre am meisten bewundert, Faulkner sei der erste Schriftsteller gewsen, den er mit Papier und Bleistift studiert habe, um sich nicht in „genealogischen Labyrinthen“, Zeitsprüngen und Perspektivwechseln zu verlieren und „die Geheimnisse der barocken Konstruktionen seiner Geschichten zu ergründen, die verschlungene Sprache, die chronologiscgen Verschiebungen, das Mysterium, die Tiefgründigkeit und die beunruhigende psychologische Ambivalenz und Subitilität, die diese Form den Geschichten verlieh“ (FW S. 359). Als erstes liest er von Faulkner Wilde Palmen, danach Die Freistatt, Als ich im Sterben lag, Absalom, Absalom!, Griff in den Staub, Diese dreizehn und Der Springer greift an.

Vargas Llosa konzentriert sich ab 1954 beim eigenen Schreiben ebenfalls auf die erzählende Prosa und schreibt keine Gedichte oder Theaterstücken mehr. Mit einer Erzählung, die er in einem Zirkel um den Herausgeber der Zeitschrift Letras Peruanas vorträgt6, findet er allerdings keinen Beifall. Er lernt daraus, indem er sich von „zeitlosen, allgemeinen Themen“ entfernt und realistischeren zuwendet, bei denen er seine eigene Erinnerungen benutzt. So entsteht die Kurzgeschichte Die Anführer, die 1957 gedruckt wird7. Seine erste veröffentlichte Erzählung enthalte in Ansätzen vieles von dem, was er später als Romancier getan habe, so Vargas Llosa: die Verwendung einer persönlichen Erfahrung (hier der Streikversuch an der Oberschule in Piura) „als Ausgangspunkt der Phantasie, die Benutzung einer Form, die durch präzise geographische und architektonische Details Realismus zu erzeugen sucht, eine Objektivität, die durch Dialoge und durch Beschreibungen von einem unpersönlichen Standpunkt aus entsteht, der die Spuren des Autors verwischt, und schließlich eine kritische Haltung in Bezug auf eine bestimmte Problematik, die den Kontext oder den Horizont der Anekdote bildet“ (FW S. 369). Ebenfalls 1957 schreibt er die in Piura spielende Geschichte Die Herausforderung, um an einem Wettbewerb der Zeitschrift La Revue Francaise teilzunehmen. Er gewinnt und der Lohn ist eine vierwöchige Reise nach Paris.

Neben Faulkner liest Vargas Llosa als junger Student nordamerikanische Autoren wie Caldwell, Steinbeck, Dos Passos, Hemmingway und Waldo Frank, doch Lateinamerikaner hat er, abgesehen von Pablo Neruda, den er schon als Schüler liebte, und César Vallejo zunächst ignoriert. Das ändert sich, als er 1955 (?) einen Studenten der Katholischen Universität (also jener Hochschule für Kinder des Bürgertums, gegen die sich der linksentflammte Mario Vargas Llosa entschieden hatte) kennenlernt: Luis Loayza „war zwei oder drei Jahre älter als ich und studierte zwar Jura, interessierte sich jedoch einzig für Literatur. Er hatte sämtliche Bücher gelesen und sprach von Autoren, von deren Existenz ich nichts ahnte – wie von Borges (..) oder von den Mexikanern Rulfo und Arreola –, und als ich vor ihm mit meiner Begeisterung für Sartre und die enagierte Literatur glänzen wollte, bestand seine Reaktion in einem gewaltigen Gähnen“ (FW S. 373). Infolge der Freundschaft mit diesem apolitischen Menschen liest Mario Vargas Llosa neben den eben Genannten Alfonso Reses, Adolfo Bioy Casares, Octavio Paz und andere sowie die von Victoria Ocampo herausgegebene Zeitschrift Sur. Diese Autoren hauptsächlich aus Mexiko und Argentinien waren „urbaner und kosmopolitischer und auch elegeanter“ als die lateinamerikanische Literatur, die er bisher in Universitätsseminaren als „indigenistische“ kennengelernt hat, als „provinzielle, demagogische Karikatur dessen, was ein guter Roman zu sein hatte“, etwa „weil in diesen Büchern die Landschaft größere Bedeutung besaß als die Personen (…) und weil ihren Autoren die elementarsten Techniken der Konstruktion unbekannt zu sein schienen, angefangen bei der Kohärenz der Erzählerperspektive (…); zudem macht der überladene, lebensfremde Stil – vor allem bei den Dialogen – die Geschichten (…) in einem Maße irreal, dass nie etwas wie Illusion entstehen konnte“ (FW S. 375 f.).

Luis („Lucho“) Loayza, der bei Politik zu gähnen anfängt, ist auf den ersten Blick ein Antipode zu den Freunden in der kommunistischen Zelle am Studienbeginn. Dennoch zeigt sich gerade an dieser Bekanntschaft, dass es feine Fäden zwischen politischer Aktion und kontemplativer Poesie geben kann: Den (angeblich) einzig an Litertatur interessierten, selbst schriftstellernden Studenten lernt Vargas Llosa durch eine Unterschriftenaktion8 kennen, und durch Loayza kommt er in Verbindung mit dem Professor Luis Jaime Cisneros, der ihn wiederum in die Christdemokratische Partei involviert. Und Cisnero war es, der Loayza die lateinamerikanischen Autoren nahebrachte, die später für Vargas Llosa eine Entdeckung sind.

Mitstudent und enger Freund von Loayza ist Abelardo Oquendo, der das Literaturressort in der Sonntagsbeilage von El Comercio verantwortet. Auf diesem Wege bekommt Vargas Llosa ab 1955 den Auftrag, peruanische Erzähler und Romanciers zu interviewen. Unter seine Gesprächspartnern sind José Maria Arguedas (bekannt für seinen die indianische Mentalität nachspürenden Roman „Die tiefen Flüsse) und Sebastián Salazar Bondy, dem wohl prominentesten der zeitgenössischen peruanischen Autoren. Für den werdenden Schriftsteller Vargas Llosa ist die Erzähltechnik die brennendste Frage: Er liest alle Romane „mit einem klinischen Auge, um herauszufinden, wie das Problem des Erzählerstandpunkts und der Organisation der Zeit gelöst war, ob die Funktion des Erzählers kohärent war oder erzähltechnische Inkohärenzen und Ungeschicklichkeiten – der Gebrauch der Adjektive zum Beispiel – die Wahrscheinlichkeitn zerstörten.“ Entsprechende Fragen stellt er in den Interviews, und einer der wenigen, die nicht ausweichen, ist Salazar Bondy (FW 435 ff.).

Eine andere schriftstellerische Einsicht gewinnt Vargas Llosa, als er während seines Nebenjobs in der Bibliothek erotische Romane liest, darunter von Restif de la Bretonne, der die Romanwirklichkeit an seinem Fetisch, den weiblichen Fuß, ausrichtet. Bei dieser Lektüre habe er ein Charakteristikum der literarischen Fiktion begriffen: „die Tatsache, dass sie dem Romancier dazu dient, die Welt nach seinem Ebenbild neu zu erschaffen, sie in subtiler Weise in Übereinstimmung mit seinen geheimen Lüsten umzugestalten“ (FW 423.)

Mit Luis Loayza und Abelardo Oquendo gründet Vargas Llosa gegen Ende seines Studiums in Lima eine Zeitschrift namens Literatura. Die erste Ausgabe widmet sich dem peruanischen Dichter César Moro, die zweite der Bewegung von Fidel Castro (Movimiento 26 de Julio), der dem Herausgebertrio als „romantischer Guerrillero“ erschien. 1958, in seinem letzten Jahr in Peru, sei er, abgesehen von dieser Sympathiebkeundung politisch nicht mehr aktiv gewesen, erinnert sich Vargas Llosa. In der Christdemokratischen Partei blieb er noch passives Mitglied, doch nachdem diese Castros Sieg lau unterstützte, erklärt er von Europa aus seine Austritt (FW 590 f.). Kuba wird bis in die 1970er-Jahre die politische Gretchenfrage für Vargas Llosa sein.

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