Für sich genommen sind Poesie und Politik diametrale Gegensätze: Jene besteht darin, sich von der Wirklichkeit abzuwenden, um eine andere zu erfinden, diese will in die Wirklichkeit eingreifen, um sie zu verändern. Dass es zwischen beiden jedoch auch Wechselbeziehungen und Mischungen geben kann, zeigt sich am Leben Mario Vargas Llosas. Die Poesie war für ihn die frühere und nicht zuletzt deshalb wichtigere Prägung. In der Großfamilie Llosa, in der er bis zum zehnten Lebensjahr aufwuchs, wurde die Beschäftigung mit Literatur vorgelebt: Seine Großmutter und deren Kusine lasen Gedichte, beispielsweise von José Santos Chocano und Juan de Dios Peza, und Romane von Xavier de Montepin (El médico de las locas und París-Lyon-Mediterráneo) und Vargas Vila (Aura o las violetas), die Mutter hatte einen Band mit Liebesgedichten von Pablo Neruda auf ihrem Nachtschränkchen. Der Großvater Pedro schrieb „festliche Verse“, die er bei Familientreffen vortrug, und er verwahrte Gedichtbücher in einem alten Glasschrank sowie einen historischen Roman (Sor María), den der Urgroßvater Belisario Llosa Rivera, ein Anwalt und Schriftsteller, verfasste1. Auch der Onkel Lucho, für Mario ein Ersatzvater, schrieb in jungen Jahren Sonette und führt eine Hausbibliothek, aus der sich der Jugendliche bedient. Impulse setzt zudem der Religionsunterricht in der Grundschule, in der Bruder Agustín „mit Beredsamkeit und Leidenschaft“ Heiligengeschichten erzählt, „in denen Reinheit und Glaube immer die schrecklichsten Prüfungen überwanden, mit einem glücklichen Ende, bei dem sich der Himmel öffnete, um die gemarterten Christen mit einem Chor von Engeln zu begrüßen, die in den heidnischen Kolosseen von wilden Tieren zerrissen oder auf der Guillotine hingerichtet wurden, weil sie sich weigerten, den Herrn zu verraten“ (ESS).

Sobald der Junge mit fünf Jahren lesen gelernt hat, verschlingt er Märchen wie Rotkäppchen, Schneewittchen und Aschenputtel sowie Abenteuergeschichten mit Nostradamos von Miguel de Zevaco oder seinem Lieblingshelden Willam The Bold von Richard Crompton. Die Legenden über Wilhelm Tell, König Arthur, Robin Hood, Zorro, Käpitan Nemo und Sindbad der Seefahrer gehören ebenso zur kindlichen Lektüre wie die Geschichten in den Zeitschriften El Peneca und Billiken. „Meine Mutter und meine Großeltern fanden es toll, dass ich so gerne las, und ermutigten mich, Verse auswendig zu lernen und sie vor der Familie aufzusagen“, erinnert sich Mario Vargas Llosa. Nach dem Umzug nach Piura als Neunjähriger erlebte er seine „erste literarische Leidenschaft: Alexandre Dumas“. Dessen Romanserien, namentlich Der Graf von Monte Christo, Das Halsband der Königin, Die Memoiren eines Arztes, Zwanzig Jahre danach und vor allem die Reihe der Musketiere bzw. Vicomte von Bragelonne erfüllen ihn „mit heroischen Gesten und romantischer Zärtlichkeit in einem farbenfrohen und spektakulären Rahmen“ (ESS). Dumas begleitet ihn noch als 14- und 15-jährigen Kadett in Lima und weckt das Verlangen, Französisch zu lernen und eines Tages in Frankreich zu leben, einem Land, mit dem er alles verband, „von dem ich wünschte, es wäre das Leben: Schönheit, Abenteuer, Kühnheit, Großmut, Eleganz, glühende Leidenschaften, reine Gefühle, maßlose Gesten“.2 Weitere Autoren, in deren Fiktionen er im Alter von zehn bis fünfzehn Jahren vor der Präsenz des Vaters oder der Kadettenanstalt flieht, sind Victor Hugo (Die Elenden), Emilio Salgari, Karl May und Jules Verne, dessen Romane Der Kurier des Zaren und Die Reise um die Welt in achtzig Tagen ihn „von exotischen Ländern und außergewöhnlichen Reisezielen träumen ließen“ (FW S. 65).

Bis in sein 15. Lebensjahr hinein besteht Literatur für Mario „aus kaum mehr als den Abenteuerromanen und einigen klassischen und modernistischen Dichtern“ (FW S. 188), und dementsprechend hat sie hauptsächlich eine eskaptistische Funktion: Sie erlaubt ihm, sich in zeitlich und räumlich weit entfernten Welten zu versetzen, die spannender und schöner als das Hier und Jetzt sind. Und das gilt nicht nur für die unglückliche Phase unter dem strengen Regiment des Vaters, die im zehnten Lebensjahr des Jungen beginnt, sondern auch in der glücklichen davor: „Auch wenn die Erinnerungen an meine Freunde und meine Streiche in Cochabamba sehr lebendig sind, so sind es die Länder und Figuren der literarischen Illusion, die noch in meinem Gedächtnis funkeln, noch mehr“, schreibt Vargas Llosa im Rückblick. Seine Berufung zum Schriftsteller habe damals begonnen als „natürliche Ableitung des hypnotischen Glücks, in das mich die Abenteuer, die mir die Bücher erlaubten zu erleben, dank dieser exaltierten Thaumaturgie, dem Lesen, eintauchten“. Dieses Leben in der Imagination sei nicht weniger real, d.h. nicht weniger gefühlt, genossen oder gelitten, als das Leben aus alltäglichen Routinen, aber es sei viel vielfältiger und intensiver: „Wenn ich mich einfach nur auf die Buchstaben eines Buches konzentriere, kann ich mich in die Abgründe des Meeres, in die Stratosphäre, nach Afrika, England, Belgien oder in die Meere Malaysias versetzen, und vom 20. Jahrhundert zurück ins Frankreich von Richelieu und Mazarin, und mit jeder fiktiven Figur die Haut, das Gesicht, den Namen, den Beruf, die Liebe, das Schicksal wechseln; somit so viele verschiedene Personen zu verkörpern, ohne aufzuhören, ich selbst zu sein, war ein Wunder, das mein Leben revolutioniert hat“ (ESS).

Die Haltung, dem Vorhandenen etwas Erdachtes überzuordnen, könnte man auch in Vargas Llosas eigenem, frühkindlichen Schreiben erkennen: Er soll den Ausgang von Geschichten, wenn er ihm missfiel, umgeschrieben oder ergänzt haben. Möglicherweise ist dies wiederum auch nur ausgedacht, jedenfalls kann sich Vargas Llosa nicht daran erinnern, als Kind so verfahren zu haben, nur seine Mutter habe davon erzählt und es als Zeichen für die schriftsellerische Berufung ihres Kindes gedeutet3. Außer der Lektüre geben später die Wüstenlandschaft und das Licht in Piura der Fantasie des Jungen Heldengeschichten ein. Er wird ermuntert, diese aufzuschreiben. „Bei der Familie meiner Mutter galt ich als begabtes Kind. Ich wurde gefeiert, wenn ich ein Gedicht oder eine Geschichte schrieb.“4

Von den Versen, die Mario Vargas Llosa in jungen Jahren schrieb, sind manche heute noch auffindbar, beispielsweise die untenstehende Impression eines Sonnenuntergangs am Meer, das in dem Alter seine Sehnsucht ist. Auch seiner Kusine Patrizia widmet er poetische Zeilen. Die Grenze zum Gefühligen oder Pathetischen überschreitet der Dichterjüngling offenbar immer wieder, jedenfalls wird ihm „Überschwang“ bescheinigt (S. 235 und 247).

Diese Verse sind ungebunden, sie ließen sich ohne Weiteres zu Prosa formen. Die Lyrik, obgleich sie bei den schriftstellerischen Gehversuchen wichtig war, ist denn auch die einzige der drei Gattungen, in der der reife Autor nicht publiziert. Vargas Llosa wird hauptsächlich Romancier, doch auch das Drama beschäftigt ihn. Inspiriert durch Theaterbesuche, insbesondere Arthur Millers Tod eines Handlungsreisenden, verfasst er mit 15 Jahren das Stück Die Flucht des Inka, welches insofern sein eigentliches erstes Werk ist, als der Schriftsteller hierbei seine Methode begründet: Er habe den Text genauso entwickelt wie später seine sämtlichen Romane: „immer wieder neu ansetzend und korrigierend, tausendmal einen völlig wirren Entwurf umarbeitend, der ganz allmählich, nach endlosen Abänderungen, seine endgültige Form annahm“ (S. FW S. 155 f.).

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