Liebesheirat gegen alles was recht ist

Im Mai 1955 trifft der nun 19-jährige Student Julia Urquidi Illanes im Haus seines Onkels Lucho und seiner Tante Olga in Lima-Miraflores an, wo sie, kürzlich geschieden von ihrem Ehemann in Bolivien, Ferien zu machen gedenkt. Sie ist die Schwester von Olga und daher eine nahe Verwandte, aber nicht blutsverwandt mit Mario Vargas Llosa. Sie, die zwölf Jahre älter ist als er (aber jünger erscheint als sie ist) und ihn zuletzt als Kind in Cochabamba gesehen hat, schlägt ihm vor, doch einmal zusammen ins Kino gehen. So treffen sie sich gelegentlich und nach zwei, drei Wochen küsst er sie bei einem Tanz. Seine Verliebtheit ist stürmisch und auch sie entflammt für ihn. Zunächst tauschen sie Zärtlichkeiten nur heimlich aus, im Dunkel von Kinosälen oder, fernab der Sippe, in Kneipen der Innenstadt. Doch die Familie beginnt etwas zu ahnen. Die Liaison ist nicht nur wegen der verwandtschaftliche Nähe, sondern auch weil man mit 19 nach damaligen Maßstäben als minderjährig gilt, anstößig. Als Mario eines Abends im Juli mitbekommt, dass seine Tanten, Onkel und Großeltern einen Familienrat darüber abhalten, reagiert er auf eine Weise, die viel über seinen Charakter aussagt und die später ebenfalls wesentlich dafür ist, dass er es ihm gelingt, als Künstler zu existieren. Er schlägt hartnäckig und planvoll gegen alle Widerstände und Tabus einen Weg ein, so aussichtslos dieser scheinen mag, um das zu erreichen, was seine große Leidenschaft ist.

„Mir war sofort klar, was geschehen würde. Tante Olga würde ihre Schwester nach Bolivien schicken, und sie würden meine Eltern informieren, damit die mich daran erinnern, dass ich noch minderjährig war (…) Noch am gleichen Abend holte ich Julia unter dem Vorwand des Kinobesuchs ab und bat sie, mich zu heiraten“, wie der Schriftsteller in seine Memoiren berichtet (FW 412). Ihre Antwort zeugt ebenfalls von der Wesensart, dem Herzen statt dem realistischen Zweifel zu folgen: „Julia sagte zu mir zunächst alles, was zu erwarten war: dass es Wahnsinn sei, dass ich ein Rotzjunge sei und sie eine gestandene Frau, dass ich die Universität nicht abgeschlossen und mein Leben noch nicht begonnen hätte, dass ich nicht einmal eine sichere Arbeit hätte und arm wie eine Kirchenmaus sei und dass eine Heirat unter diesen Umständen eine Riesendummheit sei, die keine Frau mit ein bisschen Verstand begehen würde. Dass sie mich jedoch liebe, und wenn ich so verrückt sei, sei sie es auch. Und dass wir sofort heiraten sollten, damit man uns nicht trennte“ (FW 412).

Mario bindet unverzüglich Freunde ein, um im Umland Limas einen Bürgermeister zu finden, der bereit ist, einen Minderjährigen standesamtlich zu trauen, um eine beglaubigte Kopie seiner Geburtsurkunde aufzutreiben und um eine billige Wohnung zu mieten, in der Paar fortan leben könnte. Sie fahren am nächsten Samstag, begleitet von zwei Freunden, in die Gemeinde Chincha, doch es stellt sich heraus, dass man im dortigen Rathaus eine Einverständniserklärung der Eltern verlangt. Das Liebespaar und die Freunde versuchen es nun woanders, sie irren von Dorf zu Dorf, um in irgendeiner Amtsstube den Trauschein zu erlangen – bis sie den Bürgermeister von Grocio Prado aufstöbern, der nur fordert, sie auf Marios Geburtsurkunde das Geburtsjahr von 1936 auf 1934 vorverlegen. „Es war leicht: noch an Ort und Stelle fügten wir der Sechs das Häkchen hinzu, das sie in eine Vier verwandelte“, erinnert sich Vargas Llosa (FW 416).

Nach vollzogener Eheschließung werden die Verwandten in Lima informiert, von denen Marios Vater am schärfsten reagiert, indem er Julia wegen der Verführung Minderjähriger anzeigt und seinem Sohn brieflich mitteilt, dass sie augenblicklich das Land zu verlassen habe und er ihn erschießen würde, sollte er sich widersetzen. Angesichts dieser Drohungen beschließt Julia, einstweilen zu ihren Eltern ins chilenische Antofagasta auszuweichen, während Mario sich um Verdienstmöglichkeiten umsieht, damit das Paar ökonomisch auf eigenen Füßen stehen kann. So nimmt er sechs Nebenjobs auf und bittet seinen Vater um ein Gespräch. Der ist überraschend milde gestimmt und gibt zu erkennen, dass er die Heirat akzeptiert; einzig rät er ihm, wegen ihr das Studium und die Karriere nicht zu ruinieren. Vermutlich hat ihn ein Argument des Geschichtsprofessors Porras Barrenchea, bei dem Mario Vargs Llosa während seines Studiums als wissenschaftliche Hilfskraft arbeitete und der vielleicht eine weitere Vaterfigur, zumindest aber ein wichtiger Mentor war, umgestimmt. Als der vom Eheschluss des Sohnes entsetzte Vater den Professor aufsucht, soll dieser gesagt haben: „Schließlich und endlich ist Heiraten eine mannhafte Handlung, Señor Vargas. Eine Bekundung der Männlichkeit. Es ist also nicht so schrecklich. Es wäre sehr viel schlimmer, wenn der Junge homosexuell oder drogensüchtig geworden wäre, nicht wahr?“ (FW 422).

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