Ersatzväter
Anstelle des leiblichen Vaters nehmen für den heranwachsenden Mario der Großvater Pedro und der Onkel Lucho Vaterrollen ein. Von Pedro Llosa gehen Schutz und Güte aus, er ist nicht nur Ernährer der alleingelassenen Mutter samt Kind, sondern er adoptiert auch einen Waisenjungen namens Joaquín, den er bei seiner Tätigkeit auf der Baumwollfarm in Bolivien vorfand, und einen von der Köchin ausgesetzten Jungen mit Namen Orlando. Er war „nicht jemand, der seine Enkel auf den Arm nahm und sie abküsste (…) aber er war der beste und großzügigste Mensch, den ich gekannt habe“, sagt Vargas Llosa. Den zehnjährigen Jungen erfüllt das Wirken des Großvaters als Präfekt in Piura mit Stolz: „Mir schwoll die Brust, wenn ich sah, wie er bei Versammlungen den Vorsitz führte, den Gruß der Militärs entgegennahm oder Reden hielt. Durch die vielen offiziellen Essen und öffentlichen Akte, denen er beiwohnen musste, hatte Großvater Pedro einen Vorwand für das Hobby gefunden, das er immer gepflegt hatte und zu dem er seinen ältesten Enkel ermunterte: das Schreiben von Gedichten“ (FW S. 91 und 33). So gesehen verkörperte er die beiden Pole, um die Mario Vargas Llosa sein Leben lang kreiste: Poesie und Politik. Bis ins hohe Alter war dem Großvater daran gelegen, zu arbeiten und sich nützlich zu machen.
Lucho Llosa, der älteste Bruder von Marios Mutter, war weniger als der Großvater ein ethisches Vorbild, dafür scheint er den Jungen umso mehr in ästhetischer, lebenskünstlerischer Hinsicht beeindruckt und dessen literarischen Neigungen bestärkt zu haben. Er war als junger Mann ein Frauenheld und schlug auch in beruflicher Hinsicht einen abenteuerlichen Kurs ein, Kautschukschmuggel inbegriffen. Er „verbrachte sein Leben damit, die Arbeit zu wechseln und sich in allen möglichen Geschäften zu versuchen, immer unzufrieden mit dem, was er tat, aber man muss auch sagen, dass er sich nie langweilte, obwohl es ihm bei seinen Versuchen fast immer schlecht ging“, erinnert sich Vargas Llosa. Diesen Wagemut gibt er an den Neffen weiter: „Wenn ich ihm von meiner literarischen Neigung berichtete und ihm sagte, dass ich Hungers sterben müsste, weil die Literatur das Beste war, was es auf der Welt gab, rezitierte er es oft und ermunterte mich immer wieder, meiner Neigung zu folgen, ohne mir über die Folgen Gedanken zu machen, weil – diese Lektion habe ich gelernt und meinen Kindern weiterzugeben versucht – das schlimmste Unglück für einen Menschen darin besteht, sein Leben lang Dinge zu tun, die ihm nicht gefallen, statt seinen Wünschen zu folgen“ (FW S. 234 f.). Eine literarische Ader hat auch dieser Verwandte: Aus der Hausbibliothek des Onkels, der gerne las und in seiner Jugend Sonette geschrieben hatte, greift sich der 16-Jährige Klassiker wie Tolstois Brüder Karamasow.
Liebesbeziehungen
Als seine „erste plantonische Liebe“ bezeichnet Vargas Llosa einen Trapezkünstler in rosa Strumpfhosen, den er als Kleinkind im Zirkus in Chochabamba sah und der im Gefolge mit anderen Clowns ihn zum Lachen brachte. Auf der Schwelle zur Pubertät richtet sich die Liebe dann auf Mädchen im Umfeld des Hauses seines Onkels Juan und seiner Tante Laura in Lima-Miraflores, wo er im Alter von 12 bis 14 Jahren seine Wochenenden verbringt. Sein erster Schwarm heißt Teresita Morales, die um die Ecke des Hauses an der Calle Diego Ferré wohnte. Er erklärt sich ihr, wie in der Clique üblich, mit Worten aus einem Bolero von Leo Marini: „Me gustas“. Zwar weist sie ihn zurück, doch weil er hartnäckig bleibt, kommen sie zusammen und das hieß: Allenfalls halten sie Händchen bei den sonntäglichen Matineen im Kino „Leuro“ oder „Ricardo Palma“. Küssen war tabu, das habe er wohl erst bei seiner dritten Freundin gewagt, erinnert sich der Schriftsteller. Teresita liegt der gleichnamigen Figur im Roman Die Stadt und die Hunde zugrunde; sie ist dort zunächst die Freundin eines Jungen, der dasselbe Vater-Trauma wie der Autor hat, dann von Alberto, den Vargas Llosa ebenso nach sich selbst zeichnet als Kadett mit poetischen Neigungen, und schließlich eines Bandenanführers mit Spitznamen Jaguar. Auch in seiner Erzählung Die jungen Hunde spiegelt sich diese frühe Liebe wider, wie überhaupt die glückliche Auszeit in Miraflores.
Die Beziehung mit der dritte Freundin, einem Mädchen namens Helena, währt, anders als die beiden davor, mehrere Monate oder ein Jahr und endet, als Mario mit 14 Jahren auf das Militärinternat wechselt. Es sei seine letzte Jugendfreundin gewesen – mit aller damit verbundenen Förmlichkeit, Ernsthaftigkeit und reinen Sentimentalität – , die er gehabt habe, schreibt Vargas Llosa und führt aus: „Sich zu verlieben hatte damals für mich nicht das geringste mit Sex zu tun: es war dieses klare, körperlose, intensive und reine Gefühl. das ich für Helena empfand Es bestand darin, viel von ihr zu träumen und zu phantasieren, dass wir geheiratet hatten und durch wunderschöne Gegenden reisen, Verse für sie zu schreiben und Situationen voll Leidenschaft und Heldentum auszudenken, in denen ich sie vor Gefahren rettete, aus der Hand von Feinden befreite, mich an ihren Beleidigern rächte. Sie belohnte mich dann mit einem Kuss“ (FW S. 88 und 97).
Der Männlichkeitskult an der Kadettenschule fegt diese Keuschheit hinweg. Ältere Mitschüler oder solche aus rauhen sozialen Verhältnissen prahlen mit ihrer Potenz, Sex sei „ein obsessives Thema“ gewesen; in diesem Umfeld, erinnert sich Vargas Llosa, habe das Sexuelle für ihn den abstoßenden Charakter verloren und er habe begonnen sich zu „schämen“, weil er „vierzehn Jahre alt war und noch mit keiner Frau geschlafen“ habe (FW S. 136). Daher sucht er im Juni oder Juli 1950 zusammen mit einem Klassenkameraden das Rotlichtviertel am Jirón Huatica auf, um dorthin häufig an den Samstagen seiner beiden Kadetten-Jahre zurückzukehren. Ebenso geht er zu Prostituierten, als er 1952 sein letztes Schuljahr in Piura verbringt. Zu seinen offenbar häufigen Erfahrungen in sehr jungen Jahren mit käuflichem Sex bekennt sich der Autor in seinen Lebenserinnerungen als 55-Jähriger und verbindet dies mit einem kulturkonservativem Standpunkt: Infolge der sexuellen Befreiung sei körperliche Liebe „das Natürlichste der Welt geworden, eine Gymnastik, ein flüchtiges Vergnügen, etwas völlig anderes als das große Geheimnis des Lebens, als die Annäherung an die Pforten des Himmels oder der Hölle, wie sie für meine Generation noch war. Das Bordell war der Tempel dieser verbotenen Religion, in den man sich begab, um einen erregenden, riskanten Ritus zu zelebrieren, um einige wenige Stunden lang ein Leben im Abseits zu leben. Ein Leben, das auf schrecklichen sozialen Ungerechtigkeiten aufgebaut war, gewiss (…)“ (FW S. 234).
In der Zwischenzeit, nach dem Besuch der Kadettenschule und vor der Rückkehr nach Piura, verliebt sich der Jugendliche noch einmal in ein Mädchen aus Miraflores, dessen Gestalt und Augen ihm die Sprache verschlagen. Während die Schüchternheit ihn hemmt, wird Flora Flores von einem anderen Jungen aus dem Freundkreises, Rubén Mayer, erobert. Die Niederlage bildet den Grund für die frühe Erzählung Sonntag.
Beides – die idealisierende und die käufliche Liebe – tritt zurück, nachdem Vargas Llosa am Ende seiner Schulzeit politisch als Linker erwacht. Ihm geht auf, dass die Prostitution auf Ausbeutung beruht und daher abzulehnen ist, während Romantik ihm suspekt wird als bürgerliches Gefühl. Seiner Kommilitonin Lea Barbel, mit der er sich weltanschaulich gut versteht und die zugleich eine sanfte Seite hat (sie liest wie er Gedichte von César Vallejo), mag der junge Student seine Verliebtheit nicht zeigen (FW S. 315).