In einem Aufsatz räumt Vargas Llosa ein, es könne klischeehaft klingen, wenn er seine frühe Kindheit als Paradies bezeichnet, doch das entspreche der (allenfalls durch die Erinnerung geschönten) Wirklichkeit1. Als Klischee mag es auch erscheinen, die Einflüsse seiner Mutter und seines Vaters nach Liebe und Gewalt zu unterscheiden. Zumindest die Selbstzeugnisse Vargas Llosas implizieren aber genau dies: Als erster und für die Mutter einziger Nachkömmling wurde Mario von der mütterlichen Großfamilie Llosa verhätschelt, während der Vater, der verspätet ins Leben des Jungen einbricht, diesen schlägt, in eine Kadettenanstalt schickt und einmal sogar mit dem Tod bedroht.

Mario Vargas Llosa als Baby und Mutter (Quelle: Una Vida en Palabras)

Mutter und Vater

Dora („Dorita“) Llosa Ureta lernt Ernesto Juan Vargas Maldonado im Alter von 19 Jahren kennen, als sie mit ihrer Mutter deren Geburtsstadt Tacna (Südperu) im März 1934 besucht. Er arbeitet am dortigen Flugplatz als Funker für die Luftfahrtgesellschaft Panagra. Kaum ist Dora nach einigen Ferienwochen nach Arequipa heimgekehrt, unternimmt er einen Blitzbesuch zu ihr. Sie verloben sich, um ein Jahr später, am 4. Juni 1935, zu heiraten und nach Lima, wohin ihn die Fluggesellschaft versetzt hat, in ein kleines Haus in der Calle Alfonso Ugarte im Stadtteil Miraflores zu ziehen. Kurz darauf wird sie schwanger – doch als ihre Mutter anbietet, zur Unterstützung nach Lima zu kommen, schlägt er vor, Dora möge stattdessen nach Arequipa zurückkehren, um im Elternhaus das Kind zu erwarten, während er in La Paz ein Büro für seinen Arbeitgeber aufzubauen hat. So trennt sie sich im November 1935, im fünften Monat ihrer Schwangerschaft, und seitdem hört sie für viele Jahre nichts mehr von ihm. Nach der Geburt lässt er sich über Anwälte von ihr scheiden.

Die Ehe endet also abrupt wie sie begann. Für die junge Dora soll es Liebe auf den ersten Blick gewesen sein. Neben äußerer Attraktion – der beim Kennenlernen 29-Jährige wird als sehr gut aussehend beschrieben – spielen auf ihrer Seite Entschlossenheit und Willensstärke eine Rolle: Ihre Familie rät ihr, mit der Heirat zu warten, „aber das konnte sie nicht, meine Mutter war wie ich sehr dickköpfig“, berichtet der Literaturnobelpreisträger einmal.2 Bemerkenswert ist, dass ihre Leidenschaft für Ernesto Vargas auch dann nicht erloschen ist, als dieser zehn Jahre später in ihrem Leben wieder auftaucht. Vargas Llosa erklärt dies mit einer „bedingungslosen, unerschütterlichen Leidenschaft“. Dass sie, nachdem er sie im Stich gelassen hat, als junge Frau keine andere Liebesbeziehung anstrebt, habe aber auch mit ihrem Glauben zu tun, wonach die Ehe vor Gott geschlossen wurde. „Sie ist die katholischste Katholikin dieser damals und, wie ich glaube, auch heute noch überaus katholischen Familie Llosa“, schreibt Vargas Llosa 1993 in seinen Memoiren.3

Im Kontrast zu dieser Stetigkeit und Festigkeit steht das exzentrische Wesen des Vaters (worin sich zugleich die Unterschiede der beiden Herkunftsfamilien spiegeln). Ernesto Vargas führt ein sprunghaftes Leben: Nachdem er mit 13 Jahren die Schule verlassen hatte, verdingt er sich in Lima als Schuster-Lehrling und später als Funker bei der Post. Dank einem Lottogewinn kann er Mitte der 1920er Jahren ins damals glamouröse Buenos Aires ziehen, wo er ausschweifend lebt, allerdings auch eine Ausbildung als Sprechfunker abschließt, sodass er bei der argentinischen Handelsmarine aufgenommen wurde und fünf Jahre lang die Weltmeere bereiste. Danach kehrt er nach Peru zurück, um für die Fluglinie Panagra zu arbeiten, womit wiederum Ortswechsel in den Andenstaaten einhergingen. Nach (oder womöglich zur selben Zeit mit) dem Bruch der Ehe liiert er sich mit einer Deutschen und bekommt mit ihr zwei Kinder – das erste nur ein Jahr nach Marios Geburts –, bevor er 1946 in Piura, wohin die Großfamilie Llosa inzwischen gezogen war, erscheint, um handstreichartig Dora und den elfjährigen Mario nach Lima zu mitzunehmen und somit die Rolle als Vater und Ehemann, die er vor der Geburt seines Sohns ausgeschlagen hatte, zu reklamieren.

Schon in den wenigen Monaten, die Ernesto und Dora nach ihrer Liebesheirat zusammenlebten, hatte sich der Mann als Tyrann entpuppt: Er verbot er ihr, ohne seine Begleitung aus dem Haus zu gehen, „ständig kam es aus jedem beliebigen Anlass oder auch ohne Anlass zu Eifersuchtsszenen, die durchaus in Gewalttätigkeiten ausarten konnten“ (FW S. 22). Das Muster wiederholt sich für das Kind: Mario wächst in dem Glauben auf, sein Vater wäre gestorben und befände sich Himmel. Auf dem Nachttisch steht ein Foto des Vaters in blauer Uniform, das der Junge vorm Zubettgehen küsste. Entsprechend verstört ist der Zehnjährige, als ihm seine Mutter eines Sonntagnachmittag in Piura eröffnet, der Vater lebe und sie würden ihn sogleich in einem Hotel treffen. Dort kommt ein Mann „in einem beigefarbenen dreiteiligen Anzug und einer grünen, weißgetupften Krawatte“ auf sie zu. „‚Das ist mein Sohn?‘, hörte ich ihn sagen. Er beugte sich nieder, umarmte und küsste mich. Ich war verwirrt und wusste nicht, was ich tun sollte. In seinem Gesicht lag ein falsches, festgefrorenes Lächeln. Meine Verwirrung kam daher, dass dieser Vater aus Fleisch und Blut mit seinen grauen Schläfen und dem schütteren Haar so ganz anders war als der schmucke junge Mann in Marineuniform“ (FW S. 35). Der fremde Herr schlägt eine Spazierfahrt mit dem Auto vor, die sich aus Sicht des Jungen als Entführung von Großeltern und Onkeln in Piura ins tausend Kilometer entfernte Lima herausstellt. Seine bange Frage, ob sich die Verwandten nicht Sorgen machen würden, quittiert der Vater mit Gegenfragen: „‚Soll ein Sohn nicht etwa bei seinem Vater sein? Soll er nicht mit seinem Vater zusammenleben? Was meinst du? Was sagst du dazu?‘ Er sagte es mit einer dünnen Stimme, die ich zum ersten Mal von ihm hörte, in jenem hohen, Silbe für Silbe betonendem Ton, der mir bald mehr Furcht einflößen sollte als die Predigten über die Hölle, die Bruder Augustin uns in Cochabamba gehalten hatte“ (FW S. 38). In dieser Szene erweist sich die Widersprüchlichkeit oder der Zynismus des autoritären Charakters: Das Einfordern von Ordnung, der man selbst nicht gerecht wird.

Erotik und Diktatur

Auf das Ende einer glücklichen Kindheit im Kreis der Großfamilie Llosa folgt für Mario ein Leben in Angst und Einsamkeit im kleinen Hausstand in Lima. Ernesto Vargas‘ Wutausbrüche gegen Frau und Kind erträgt die Mutter, obwohl ihr Sohn sie bittet, zu den Großeltern zurückzukehren – bis sie nach einer Handgreiflichkeit (durch die sie einen Bluterguss davonträgt) mit ihrem Kind Unterschlupf bei Verwandten in Lima sucht. Doch nach wenigen Tagen vergeben beide Elternteile einander. Solche Entzweiungen und Versöhnungen wiederholen sich mehrmals. Dass Dora Llosa letztlich an ihrem Mann festhält, dürfte neben den genannten auch praktische Gründe haben. Trotz seiner Übergriffe und Unbeherrschtheit zeichnen ihn eine Disziplin und Solidität aus, ohne die die Mutter die Unterstützung der Verwandten weiter in Anspruch nehmen müsste: Er trinkt nicht, gönnt sich kaum Vergnügungen und hat sich weiter emporgearbeitet. Neben einer Anstellung bei einer amerikanischen Nachrichtenagentur in Lima entwickelt er Baugrundstücke im neuen Stadtviertel La Perla. Unruhig bleibt er jedoch, Anfang der 1950er Jahre verliert er viel Geld bei dem Versuch, in New York einen Kleiderhandel aufzubauen. Die Partnerschaft überdauert auch dies. Bis zu seinem Tod 1979 bleiben Ernesto Vargas und Dora Llosa zusammen.

Unterdrückt und bedroht von seinem Vater wird für den Jungen die Literatur noch wichtiger, um der Realität zu entfliehen – dem Vater sind umgekehrt die literarischen Ambitionen des Sohnes ein Graus, weshalb er ihn als Vierzehnjährigen auf die Militärschule Leoncio Prado schickt. Was gedacht war, den Jungen für einen bürgerlichen Beruf zu disziplinieren, verschafft ihm ironischerweise den Stoff für schriftstellerischen Erfolg: In der Kadettenschule gewinnt Mario eine Anschauung von der zerklüfteten peruanischen Gesellschaft und einer Institution, über die zu schreiben ihn reizt, weil sie die verhasste Vaterherrschaft versinnbildlicht. Die Stadt und die Hunde dekuvriert Gewalt und Unterdrückung – und deutet deren erotische Verstrickung an. Beide Themen sind Konstanten im Werk Mario Vargas Llosas, vielleicht am höchsten gesteigert im Roman Das Fest des Ziegenbocks über den dominikanischen Diktator Trujillo, für den Sex zum politischen Geschäft gehörte.

Der liebevollen Familie entrissen zu sein und zu erleben, wie die Mutter einen Despoten liebt, bleibt nicht das einzige Trauma dieser Jahre. Der fromm erzogene Knabe beginnt den Glauben an Gott zu verlieren, nachdem an der katholischen Schule, die er in Lima besucht, sich einer der Mönche an ihm vergeht: Der Erwachsene lockt ihn in sein Zimmer und macht sich am Hosenschlitz des Jungen zu schaffen, der allerdings selbstbewusst genug ist, den Mann abzuwehren.

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