1946

Die Llosas verlassen Cochabamba und kehren nach Peru zurück, weil der Großvater, dessen Vertrag für die Hacienda-Bewirtschaftung in Bolivien abgelaufen ist, Präfekt im nordperuanischen Piura wird. Zu dem Amt kommt er, nachdem sein Kusin José Luis Bustamente y Rivero 1945 zum Präsidenten Perus gewählt wurde. Für den Jungen bedeutet die Umzugsreise entlang der peruanischen Küste von Süden nach Norden nicht nur den ersten Kontakt mit dem Meer, sondern auch „mit endlosen, je nach Sonneneinfall weißen, grauen, bläulichen oder rötlichen Wüsten, ihren einsamen Stränden, den ockerfarbenen und grauen Ausläufern der Kordilleren (…) Eine Landschaft, die mich später als das bleibendste Bild Perus immer im Ausland begleiten sollte.“1 Zwischenstation ist Lima, wo sich zwei der drei Onkel und Tanten und damit auch Spielgefährtinnen Marios, die Kusinen Nancy und Gladys, niederlassen. Den Großeltern (mitsamt Großtante und den beiden Adoptivkindern) folgen er, seine Mutter sowie Onkel Lucho, Tante Olga und deren Tochter Wanda weiter nach Piura, indem sie zunächst nach Talara fliegen, um dort den Sommer, die ersten Monate des Jahres 1946, zu verbringen.

Dichter-Fantasien aus Farben und Landschaft

Die Präfektur an der Calle Lima 552 in Piuras Innenstadt dient der Familie zugleich als Wohnhaus, es hat zwei Innenhöfe mit hölzernen Zwischendecken im umlaufenden Säulengang, in denen Fledermäuse nisten, die der Junge einmal mit Freunden zu fangen versucht. Er besucht die fünfte Klasse der Salesianer-Schule an der Plaza Merino (heute Plazuela Ignacio Merino) neben der Kirche María Auxiliadora. Wie in der Grundschule von Cochabamba ist Mario jünger als seine Mitschüler, die ihm, wie Vargas Llosa in seinen Erinnerungen hervorhebt, Kraftausdrücke beibringen und ihn sexuell aufklären. Sich den Geschlechtsverkehr vorzustellen, ekelt ihn. Gleichwohl findet auch er es spannend, ein abseits der Stadt, zwischen Castilla und Catacaos stehendes Etablissement zu belauern, dessen grüner Anstrich sich exotisch ausnimmt inmitten der Sandfarben Piuras. Es wird zum Symbol seines zweiten Romans Das grüne Haus. Topographie und Farben spielen eine wichtige Rolle für den werdenden Dichter: „Die Sandwüste, die Piura umgibt, mit ihren Wanderdünen, kleinen Ziegenherden und den Luftspiegelungen, die an den Abenden, wenn die rötlichen Kegel der Sonne am Horizont die weißen und goldenen Sandmassen in ein blutrotes Licht tauchen, Teich und Quellen vortäuschen, ist eine Landschaft, die mich immer berührt hat, die anzusehen ich nie müde geworden bin. Wenn ich sie betrachte, gingen meiner Phantasie die Zügel durch. Sie war der ideale Schauplatz für epische Heldentaten, Ritter und Abenteurer, Prinzen, die gefangene Jungfrauen befreien, oder Helden, die wie die Löwen kämpften, bis sie die Bösen besiegt hatten.“2

Wie in Cochabamba zählen Kinobesuche und Badeausflüge, etwa an die Strände von Yacila und Paita, an den Fluss Piura oder ins Schwimmbad des Grau-Clubs, zu den Vergnügungen in Pirua, das „damals eine kleine, sehr fröhliche Stadt, bewohnt von wohlhabenden, ungezwungenen Hacienda-Besitzern“3 war, „mit seinen Johannisbrotbäumen und den geduldigen Eselchen, von den Piuranern meiner Jugend fremder Fuß genannt – ein ebenso schöner wie trauriger Spitzname“.4

Das Kindheitsparadies aus Weiß-, Gelb- und Rottönen bricht mit dem Auftauchen des Vaters nach einem Dreiviertel Jahr ab. Der Fremdling lädt Frau und Kind in einen „blauen Ford“, wie sich Vargas Llosa bezeichnenderweise erinnert, um mit ihnen nach Lima zu brausen =>nächste Station.

1952

Als 16-Jähriger kehrt Mario nach Piura zurück, um an der San-Miguel-Schule die neunte Klasse zu besuchen und damit die Oberschule abzuschließen. Er wohnt jetzt bei seinem Onkel Lucho und Tante Olga mit deren Kindern Wanda, Patricia und Lucho in einem Haus am Merino-Platz, wo sich auch diese Schule befindet. Die Großeltern leben inzwischen nicht mehr in der Stadt, sondern sind nach Lima gezogen, weil mit dem Sturz der Regierung Bustamente der Großvater sein Präfektenamt verloren hatte.

Öffentlicher Autor

Wenn er von den 55 Jahren, die er bisher gelebt habe, schreibt Vargas Llosa 1991 in seiner Rückschau, ein Jahr noch einmal leben könnte, würde er diesen zweiten Piura-Aufenthalt auswählen. Alles was ihm zwischen April und Dezember 1952 widerfahren sei, habe ihn in einen Zustand geistiger Euphorie und Lebensfreude versetzt, an den er immer voll Sehnsucht zurückgedacht habe.5 In dieser Zeit betritt er als Autor die Öffentlichkeit: Das Drama Die Flucht des Inka, das der Jugendliche im Vorjahr anlässlich eines Wettbewerbs verfasste, wird an der Schule einstudiert und Mitte Juli im Varietétheater aufgeführt. Die Premiere ist ein Ereignis in der Stadtgesellschaft: Viele Leute, die keine Karten bekommen hatten, hätten den Saal gestürmt und in dem Chaos habe sich sogar der Präfekt seines Platzes beraubt gesehen und dem Schauspiel stehend beiwohnen müssen, so schildert Vargas Llosa den Abend später.6 Es folgen zwei Wiederholungen und wenig später berichten Zeitungen in Lima, dass das Stück den zweiten Platz bei Wettbewerb gewonnen hat.

Öffentliche Angelegenheit

Neben dem erfolgreichen Debüt als Schriftsteller verbindet Vargas Llosa mit Piura Jahrzehnte überdauernde Freundschaften, als engsten Freund aus jener Zeit nennt er seinen Klassenkameraden Javier Silva, einen späteren Politiker und Mitstreiter. Die Politik ist es auch, die in Piura den Jugendlichen erfasst. Sein Interesse dafür wird geweckt von Lehrern für politischer Ökonomie und Geschichte an der Oberschule und angestachelt durch die Autobiographie des Kommunisten und Agenten Jan Valtin, die er sich von seinem Onkel ausleiht, der ihm wiederum die zeitgenössischen ideologischen Strömungen erklärt. Angesichts des Armutsgefälles in Peru ziehen den 16-Jährigen linke Revolutionsideen am meisten an, wie sie zur selben Zeit im „Movimiento Nacionalista Revolucionario“ in Bolivien Gestalt annehmen. In diesem Geist initiiert er einen Schulstreik (der sich gegen veränderte Prüfungsbedingungen richtet) und beschließt, sich nach dem Abschluss nicht an der katholischen Universität von Lima, sondern an der staatlichen einzuschreiben =>nächste Station.

Beiderlei Anfänge, den als öffentlicher Literat und den als Engagierter für die res publica, hält der Journalistmus, den Mario in Piura weiterverfolgt, wie eine Klammer zusammen. Er arbeitet stundenweise für die Lokalzeitung La Industria und schreibt dort – neben dem Aufbereiten von Agenturmaterial – zwei Kolumnen, in denen er „das aktuelle Geschehen kommentiert und (…) über Politik und Literatur plaudert“.7 Der Schulstreik wiederum, die erste (quasi-)politische Aktion Vargas Llosas, wird das Thema seiner ersten veröffentlichten Erzählung, Die Anführer, sein.

  1. MVLL. Der Fisch im Wasser, S. 27. ↩︎
  2. Ebenda, S. 36. ↩︎
  3. Ebenda, S. 30. ↩︎
  4. Nobelpreisrede ↩︎
  5. MVLL. Der Fisch im Wasser, S. 232. ↩︎
  6. Ebenda, S. 252. ↩︎
  7. Ebenda, S. 247. ↩︎