1959 – 1966
Sagenumwoben war der Ort von früh an. Dem Kleinen wurde erzählt, dass Störche aus Paris die Neugeborenen brachten; erst mit neun oder zehn Jahren erfuhr er von Klassenkameraden, wie es wirklich vonstatten ging. Da hatten schon andere Quellen seine Fantasie für Frankreich und dessen Hauptstadt entfacht: die Geschichten von Alexandre Dumas, später Victor Hugo und anderen. „Als Kind habe ich davon geträumt, eines Tages nach Paris zu reisen, denn die französische Literatur übte einen solchen Zauber auf mich aus, daß ich dachte, erst wenn ich dort leben und die gleiche Luft atmen würde wie Balzac, Stendhal, Baudelaire und Proust, könnte ich ein richtiger Schriftsteller werden, während ich in Peru immer nur ein kleiner Sonntagsschreiber bliebe“, sagt der Nobelpreisträger. 1 Anfang 1958 erfüllt sich der Wunsch: Vargas Llosa bekommt als Sieger eines Literaturwettbewerbs der Revue Francaise eine zweiwöchige Reise nach Paris geschenkt, inklusive Aufenthalt im Hotel Napoleón an der Avenue de Friedland mit Blick auf den Triumphbogen, die er in einer billigen Herberge um zwei Wochen zu verlängern gedenkt, doch die Hotelleitung ist großzügig genug, dem 21-jährigen Studenten für dieselbe Dauer das Zimmer zu überlassen. Der Herausgeber der Kunstzeitschrift und somit Sponsor des Literaturpreises arrangiert Treffen mit Repräsentanten der Kulturszene, auch eine kurze Begegnung mit Albert Camus, und ein Interview mit dem Figaro. Glücklich ist auch die Bekanntschaft mit der Tochter von Freunden des Herausgebers, einer Kunststudentin, mit der Vargas Llosa viel Zeit in Ausstellungen, Theatern, Kinovorführungen und auf Spaziergängen verbringt. Er spricht von einem „märchenhaften Monat“ in einer Stadt, die wirklich zu erleben noch zauberhafter gewesen sei als die Vorstellungen, die er sich bis dahin aus literarischen Fabulierungen von ihr gemacht hatte (FW 582).
Etwa ein Jahr später, in den Weihnachtsferien 1958/59, unternimmt er von Madrid aus, wo er inzwischen Promotionsstudent ist, mit seiner Frau Julia und dem Studienfreund Luis Loyoza eine erneute Stippvisite nach Paris, bevor das Ehepaar im Herbst 1959 wiederkehrt, um für mindestens ein Jahr in der französischen Hauptstadt zu leben, wofür Professor Barranchea ein neues Stipendium in Aussicht stellt. Sie bestreiten den Umzug mit den restlichen Mitteln aus dem Madrider Stipendium (bzw. mit dem für die Rückreise nach Peru vorgesehenen Betrag) und beziehen eine schlichte Herberge im Quartier Latin: das „Hotel Wetter“ in der Rue du Sommerard 9. Nach einem Monat erfährt Vargas Llosa, dass sein Name entgegen den Erwartungen nicht auf Stipendiatenliste steht. Die Hotelbesitzer, eine Familie La Croix, überlässt dem Paar eine Dachgeschosskammer (und erlaubt ihm, dort einen Campingkocher zu benutzen), zugleich sieht sich Vargas Llosa nach Aushilfsjobs um. Zunächst verdingt er sich als Zeitungseinsammler für die Studentengewerkschaft und als Handlager beim nächtlichen Umladen von Gemüse in Les Halles und bietet sich bei Banken als Übersetzer an. Dann macht ihn jemand auf Carlos Espinoza aufmerksam, einen peruanischen Dichter, der in der Berlitz-Schule Spanischkurse gibt. Der vermittelt ihm zunächst einen einwöchigen Kurs, woraufhin der Schuldirektor, beeindruckt von Vargs Llosas akademischen Qualifikationen, eine feste Stelle anbietet. Damit erfüllen er und seine Frau auch die Bedingungen für ein langfristiges Visum in Frankreich. Sprachlich ist noch eine Hürde zu nehmen: an der Schule wird reines Kastilisch verlangt, also anders als in Lateinamerika ist die zweite Person Plural mit „vosostros“ und der entsprechenden Verbendung zu bilden, außerdem werden „C“ und „Z“ anders ausgesprochen. Vargas Llosa bekommt einen Plan mit vielen Hohlstunden: Sein Kurse finden von 7 bis 8 Uhr morgens, 12 bis 13 Uhr und 19 bis 21 Uhr statt. Doch das macht nichts. Die Zwischenzeiten nutzt er, um im ersten Stock des Café de Flore die Arbeit an seinem Roman Die Stadt und die Hunde fortzusetzen.2
Das feste Einkommen erlaubt dem Paar, nach gut einem Jahr in eine Wohnung an der Rue de Granelle umzuziehen; sie benötigen mehr Platz nicht zuletzt, weil im August 1960 Vargas Llosas Kusine Wanda zum Sprachstudium an der Alliance Francaise nach Paris kommt und bei ihnen wohnt. Ihre wirtschaftliche Situation verbessert weiter: Vargas Llosa arbeitet für spanischsprachige Abteilung der Nachrichtenagentur France Presse, bevor er und seine Frau beim Radio- und Fernsehsender ORTF eine Anstellung erhalten. Im Sommer 1961 nehmen sie eine Zwei-Zimmer-Wohnung im ersten Stock der Rue de Tournon 17 und können sich zudem ein Auto für Urlaubsfahrten leisten. In selben Jahr stößt Wandas Schwester Patricia, die sich an der Sorbonne immatrikuliert, zu ihnen. Vargas Llosa arbeitet bei dem Sender für das Nachtprogramm und kommt gewöhnlich erst um 4 Uhr morgens heim, um bis Mittag zu schlafen um dann im benachbarten Café Le Tournon zu frühstücken und an seinem Roman zu schreiben.
Paris war Anfang der 1960er Jahr nicht nur ein Zentrum intellektueller Debatten – Jean-Paul Sartre, Albert Camus, André Malraux oder Simone de Beauvoir wirkten dort noch – sondern auch Ausgangspunkt für das, was man später den Boom lateinamerikanischer Literatur nannte. Fidel Catsros Revolution in Kuba und seine Resistenz gegen die USA haben das Interesse in Europa für den spanischsprachigen Teil des Kontinents geweckt, und als der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges nach Paris kommt, löst er ein großes Echo aus. In der französischen Hauptstadt leben seinerzeit lateinamerikansiche Autoren wie Octavio Paz, Julio Cortázar, Jorge Edwards und Julio Ramón Ribeyro, Carlos Fuentes ist besuchsweise häufig zugegen. Dank seiner Arbeit beim Rundfunk kann Vargas Llosa mit ihnen und weiteren Größen wie Alejo Carpentier und Miguel Ángel Asturias Interviews führen. Cortazar und Edwards werden zu seinen Freunden. In diesem Ambiente beginnt Vargas Llosa, sich als Lateinamerikaner zu fühlen.
Seinen Erstling La ciudad y los perros (Die Stadt und die Hunde) schließt Vargas Llosa 1961/62 ab – bevor seine Ehe in eine tiefe Krise gerät und er den Tod seiner Kusine Wanda bei einem Flugzeugabsturz bewältigen muss. Das Manuskript reicht er zuerst bei einem Pariser Verlag ein, der es aber ablehnt, weil es nicht ins Verlagsprogramm, das auf politische Essays ausgericht ist, passt. Daraufhin gibt er es einem Hispanistik-Professor an der Sorbonne zu lesen, der ihn an den Verleger Maurice Nadeau vermittelt. Doch nachdem auch dieser den Text ablehnt, schickt Vargas Llosa sein Werk an den peruanischen Schriftseller und engen Freund Sebastián Salazar Bondy in Lima, der es mit höchsten Empfehlungen an den Verlag Editorial Sudamericana nach Buenes Aires weiterleitet, wiederum ohne Erfolg. Da rät ihm Claude Couffon, ein befreundeter Spanischprofessor an der Sorbonne, es bei Carlos Barral, der einen kleinen Verlag in Barcelona führt, zu versuchen. Vargas Llosas Bedenken wegen der Zensur im franquistischen Spanien (mit der er Erfahrung nach Erscheinen seines Erzählbandes Die Anführer in Barcelona gemacht hat), zerstreut der Tippgeber mit dem Hinweis, dass Carlos Barral auch Möglichkeiten hat, auch in Mexiko Bücher herauszugeben. Der katalanische Verleger antwortet auf das Manuskript nach wenigen Wochen enthusiastisch: Er werde den Roman auf jeden Fall drucken. Sie treffen sich in Paris und Barral empfiehlt dem Autor, sich für den Literaturpreis Biblioteca Breve zu bewerben, denn diese Auszeichnung würde Verhandlungen mit der Zensurbehörde erleichtern. Aus den 81 Wettbewerbsbeiträgen wählt die Jury, der neben Carlos Barral Victor Seix, José María Castellet, José Maria Valverde und Juan Petit angehören, Vargas Llosas Roman im Herbst 1962 einstimmig als besten aus.3
Dennoch muss Barral Mühe aufwenden, die spanische Zensur gnädig zu stimmen. Er holt Vargas Llosa nach Madrid zu einem Mittagessen mit Carlos Robles Piquer, Leiter der Zensurbehörde und Schwager von Francos Informationsminister Manuel Fraga. Die Zusammenkunft ist amüsant, der Zensor geschmeidig: Er nimmt Anstoß daran (oder bittet um Verständnis darum, dass konservative Regierungsmitglieder Anstoß daran nehmen würden), dass in dem Roman ein Oberst, also ranghoher Repräsentant der Militärinstitution, wegen seiner Korpulenz mit Bauch eines Wals verglichen und somit lächerlich gemacht wird. Auf Vargas Llosas Frage, wie es wäre, wenn man „ballena“ (Wal) durch das weniger anschauliche Wort „cetaceous“ (Meeressäugetier) ersetzte, gibt sich Robles Piquer zufrieden. Auf diese Weise werden verschiedene Textstellen durchgesprochen und entschärft, so dass das Buch im Oktober 1963 bei Seix Barral in Bareclona erscheinen darf und daraufhin mit dem spanischen Kritikerpreis ausgezeichnet wird. In der zweiten Auflage indes nimmt der Verleger die Textänderungen wieder zurück (30 Jahre später, Spanien hat sich zur Demokratie gewandelt, begegnen sich der Funktionär und der Autor wieder, um sich über diese Anekdote auszutauschen).4 Das Buch wird binnen kurzen in zahlreiche europäische Sprachen übersetzt und mach seinen Autor somit international bekannt.
Unterdessen arbeitet Vargas Llosa am nächsten Roman: La casa verde (Das Grüne Haus). Diesen verfasst er größtenteils in der Wohnung in der Rue de Tournon, in der das Ehepaar ab Herbst 1962 alleine wohnt (kurzeitig müssen sie in eine Wohnung in der Rue Valadon ausweichen). Im Frühjahr 1964 hat er einen Entwurf abgeschlossen, den er anhand einer abermaligen Reise an den Rio Marañon überprüft. Die Expedition, die Vargas Llosa zusammen mit seinem Freund, dem Anthropologen José Matos Mar, macht, zeugt von Wagemut und Chuzpe: Weil in Lima die Flüge ausfallen und der Landweg nur mithilfe des Militärs zu bewältigen ist, geben sich beide beim Armeestützpunkt in Chiclayo als Ingenieure im Auftrag der Regieung aus und lassen sich mit einem Jeep in den Urwald bringen. Dort werden sie von Offizieren zu einer mehrstündigen Sitzung geladen und zu Fachthemen und den angeblichen Plänen der Regierung befragt. Sie halten auch diese Täuschung durch.5
Bis ins Jahr 1965 revidiert der Schriftsteller den Roman. Bevor dieser im März 1966 wieder bei Seix Barral in Barcelona erscheint, macht sich Vargas Llosa ans nächste Werk: die Erzählung Los cachorros (Die jungen Hunde). Parallel schreibt er für lateinamerikanische Kulturzeitschriften wie Casa de la Americas, Primera Plana, Marcha und Expreso. Kuba bereist er im Oktober 1962 (als Korrespondent des ORTF) und im Januar 1965 als Juror für den Preis der Casa de las Americas; nach New York wird er 1966 zum Weltkongress des PEN eingeladen.6 Im selben Jahr ist Vargas Llosa außerdem in Argentinien, Urugay und Moskau unterwegs. Familiär sind die Zeiten ebenfalls bewegt. 1964 lässt er sich von seiner Frau Julia scheiden, um im Mai des nächsten Jahres seine Kusine Patricia Llosa in Lima zu heiraten. Im März 1966 kommt ihr Sohn Alvaro zur Welt. Mit Patricia lebt Vargas Llosa noch bis Ende 1966 in Paris, bevor sie nach London umziehen, wo er ein Lehrangebot angenommen hat => nächste Station.
Dass er Paris, den Traum seiner Jugend, verlassen hat, begründet der Schriftsteller damit, dass er der Stadt und der Übellaunigkeit der Franzosen überdrüssig geworden sei.7 Sein Freund und Kenner José Miguel Oviedo vermutet, dass Vargas Llosa mit wachsender Bekanntheit in Paris seiner Privatspähre verlustig ging, zudem habe ihn die Arbeit bei dem Rundfunksender schließlich ermüdet. 8
- MVLL: Nobelvorlesung 2010. ↩︎
- Una vida en palabras, 2022, Teil 4. ↩︎
- José Miguel Oviedo: Mario Vargas Llosa: la invencion de una realidad. Seix Barral, 1982, S. 34. ↩︎
- Una vida en palabras, 2022, Teil 4. ↩︎
- MVLL: Geheime Geschichte eines Romans. Suhrkamp, S. 76 f. ↩︎
- Oviedo: 1982, S. 37 ff. ↩︎
- Una vida en palabras, 2022, Teil4. ↩︎
- Oviedo, 1982, S. 41. ↩︎