1958

Madrid erreichen Mario Vargas Llosa und seine Frau Julia Urquidi Illanes im August 1958, nach einer fast dreiwöchigen Überfahrt per Schiff von Rio de Janeiro. Das Verkehrsmittel hatten sie gewählt, weil Vargas Llosas Postgraduiertenstipendium Hin- und Rückflugtickets nur für eine Person vorsah, die aber in Schiffspassagen dritter Klasse für zwei Personen getauscht werden konnten. Nach Rio gelangten sie per brasilianischem Militärflugzeug mit Zwischenlandungen in Cochabamba, Santa Cruz und Campo Grande, was Professor Barrenechea, Förderer des Studenten in Lima und inzwischen peruanischer Außenminister, vermittelt hatte. In der brasilianischen Hafenstadt schließt sich der Studienfreund Lucho Loayza ihnen an. Das Schiff macht Halt in Lissabon und Gran Canaria, bevor es in Barcelona einläuft. Dort verbringen sie einige Tage, um dann einen Zug nach Madrid zu nehmen.

Das Paar mietet zunächst eine kleine Wohnung im vierten Stock der Calle Doctor Castello Nr. 12. In derselben Straße, an der Ecke zur Avenida Menéndez Pelayo, befindet sich eine Kneipe namens „El Jute“ (heute das Restaurant „Arzabal“), in der Vargas Llosa jeden Nachmittag, nachdem er vormittags die Universität besucht hat, zum Schreiben seines Romans Die Stadt und die Hunde und zum Lesen kommt. In dem verrauchten Ort habe er – damals selbst starker Raucher – sich gut konzentrieren können.1 Nach wenigen Wochen liest er in der Zeitung ABC von dem Literaturwettbewerb Leopoldo Alas in Barcelona. Er reicht sechs Kurzgeschichten ein, die er schon in Lima geschrieben hat (darunter seine erste Veröffentlichung Los jefes, zu deutsch Die Anführer), und gewinnt den ersten Preis. Die Erzählsammlung trägt ebenfalls den Titel Los Jefes bzw. Die Anführer und erscheint 1959.

In Madrid, gegen Ende des Jahres 1958, fasst Vargas Llosa den Entschluss, ausschließlich Schriftsteller zu werden, also das literarische Schreiben nicht mehr in Abhängigkeit vom Leben zu organisieren, sondern umgekehrt, das Leben der Literatur zu unterwerfen.2 Es sollen aber noch mehr als zehn Jahre vergehen, bis er auf seine Brotberufe Journalist und Dozent verzichten kann.

Das Ehepaar nutzt den Aufenthalt für Reisen nicht nur in Spanien, sondern auch nach Frankreich und Italien. Zudem begibt sich Vargas Llosa im Juni 1959 nach Marokko und lernt die Küstenstädte Tanger und Casablanca kennen. Seine Dissertation über Rubén Diarío stellt er indes nicht fertig; der Doktorvater soll ihn hingehalten und seine Archivrecherchen für sich selbst verwendet haben. 3 Enttäuscht sieht sich der Doktorand auch in seiner Erwartung, an der Complutense in Madrid eine Philologie auf höherem Niveau als in Lima kennenzulernen. Stattdessen herrscht, auch unter dem Druck der franquistischen Zensur, eine erzkonservative und formalistische Literaturbetrachtung vor.4

Als das Stipendium im Herbst ausläuft, beschließen beide, an den Sehnsuchtsort des jungen Schriftstellers zu ziehen, statt nach Peru zurückzukehren. Vargas Llosa bittet Professor Barrenechea um ein Anschlussstipendium, was dieser auch in Aussicht stellt. Daraufhin lösen sie einen Zugfahrschein dritter Klasse nach Paris => nächste Station.

Und doch, obwohl ich aus vielen Gründen betrogen wurde, ist es so, dass ich dieses dörfliche Madrid lieben gelernt habe und dass die anderthalb Jahre, die ich in seinen ruhigen Gassen verbracht habe, eine der besten meines Lebens waren. Denn trotz Franco, der Zensur und allem, was rückständig war, hatte Madrid unzählige Reize. Mit den 120 Dollar pro Monat meines Stipendiums konnte ich wie ein König in einer guten Pension im Viertel Salamanca leben. Ich kaufte Bücher, ging zu Stierkämpfen, machte Ausflüge durch Kastilien und konnte die Tavernen besuchen, die vom Geruch von frittiertem Essen und Meeresfrüchten durchdrungen waren. Das alte Madrid war sehr gut erhalten und man konnte an warmen Herbstnachmittagen die Routen von Pío Barojas Romanen über das anarchistische fin de siecle verfolgen oder mit dem Modell die Beschreibungen des Madrids des neunzehnten Jahrhunderts konfrontieren, die Pérez Galdós in Fortunata und Jacinta machte, einem Roman, den ich in diesem Jahr mit Leidenschaft gelesen habe. Abgesehen vom Gijón bestanden noch viele alte Cafés, in denen sich Dichter, die genauso alt waren wie diese, auf altmodische Art in den legendären „Peñas“ oder „Tertulias“ trafen, die so viele Seiten der spanischen Literatur füllen und wo man die berühmten Lügendetektoren inspizieren konnte. Andererseits war der Herzlichkeit aller Menschen – gehoben oder bescheiden, auf dem Land oder in der Stadt – mit dem Fremdling grenzenlos. Seitdem habe ich in vielen Städten gelebt, in der alten und in der neuen Welt: Ich habe noch nie etwas gekannt, das auch nur im Entferntesten der Gastfreundlichkeit und der überbordenden Großzügigkeit des spanischen Volkes gegenüber dem Ausländer ähnelt. Diese Tugend wurde rückwirkend riesengroß in meinen Erinnerungen in den folgenden sechs Jahren, die ich in Paris verbrachte – jener Stadt, die merkwürdigerweise zweierlei Titel vereinte: den unwiderstehlichsten Zauber auf den Rest des Planeten auszuüben und die unwirtlichste für einen Métèque (der ich war) zu sein.5

Seit den 1990er Jahren

Nachdem Alberto Fujimori als Präsident Perus den Kongress aufgelöst und sich zum Diktator selbst ermächtigt hat, fürchtet Vargas Llosa, dass ihm, als dessen lautstarker Widersacher, die peruanische Staatsangehörigkeit entzogen wird. Er bemüht sich daher um die spanische und erhält sie 1993. Ein Jahr später wird er in Madrid die Real Academia Española aufgenommen und mit dem Cervantes-Preis ausgezeichnet. Seit den 1990er Jahren schreibt er Essays für die spanische Tageszeitung El País. Gegen Ende der 90er Jahre verlegen er und seine Ehefrau ihren Wohnsitz von London nach Madrid. Nach dem Ende der Fujirmori-Herrschaft im Jahr 2000 und der Widerherstellung demokratischer Verhältnisse in Peru kann der Schristeller sein Heimatland wieder betreten, fortan sind die spanische und peruanische Hauptstadt seine beiden Wohnsitze.

  1. Mario Vargas Llosa: Una vida en palabras, Teil 4. ↩︎
  2. MVLL: Geheime Geschichte eines Romans, 1971, S. 53 f. ↩︎
  3. Julia Urquidi Illanes: Loque Varguitas no dijo, S. 67. ↩︎
  4. MVLL: Madrid cuando era aldea. In: Contra viento y marea III. Seix Barral, 1990. S. 9 f. ↩︎
  5. Ebenda S.12 f. (Übersetzung RM). ↩︎