1967 – 1970

London zu jener Zeit unterschied sich sehr von Paris, wo ich die sieben Jahre zuvor gelebt hatte. In Paris sprach man vom Marxismus und von der Revolution, davon, Kuba zu verteidigen gegen die Bedrohungen des Imperialismus. Es gelte, die bürgerliche Kultur zu beenden und sie zu ersetzen durch eine andere, universelle, worin sich jede Gesellschaft vertreten fühlen könne. In Großbritannien interessierte sich die Jugend nicht für politische Ideen; die Musik wurde zur vorherrschenden Kraft der Kultur. Es waren die Jahre der Beatles und der Rolling Stones, des Marihuana und der extravaganten schrillen Kleidung, der bis auf Schulterhöhe getragenen langen Haare. Ein neues Wort kam auf und ging ins weltweite Vokabular ein – die Hippies.1

Zunächst lässt sich Vargas Llosa mit Frau und Kind in Cricklewood, einem von Iren gepägten Bezirk im Norden Londons, nieder, bevor sie nach einem halben Jahr ein Reihenhaus beim Earl’s Court mieten, einen Altbau in georgianischen Stil an der Adresse Philbeach Gardens 7. Es stellt sich heraus, dass die Hippieszene ihr Epizentrum in derselben Gegend hat. Im Gegensatz zu Paris empfindet er „die Leute in guter sympathischer Stimmung. Ich erinnere mich an die überraschende Antwort einer jungen Frau auf meine Frage, warum sie barfuss herumlaufe: ‚Um mich ein für alle Mal meiner Familie zu entledigen!'“ Während sich in Paris die akademische Jugend mit linken Ideen auf den Kulmationspunkt Mai 1968 zubewegt, spielt sich in London eine musikalische und Lebensstil-Revolution ab.

Vargas Llosa unterichtet am Queen Mary’s College Hispanoamerikanische Literatur, um an allen freien Schulnachmittagen im Lesesaal der British Library im Britischen Museum oder am heimischen Schreibtisch seinen dritten Roman Gespräch in der ‚Kathedrale‘ zu schreiben. „Ich hatte viele Bekannte, aber nur wenige Freunde. Unter ihnen die Schriftsteller Hugh Thomas und Guillermo Cabrera Infante, die zufälligerweise wenige Meter von meinem Haus entfernt wohnten“, erinnert er sich. In dem Jahr 1967 steigt der Ruhm des Autors: Er wird mit dem Peruanischen Nationalpreis für Romanliteratur prämiert und erhält zum zweiten Mal den Spanischen Kritikerpreis. Die Krönung jedoch ist der in Venezuela ausgelobte Literaturpreis Romulo Gallegos, der mit umgerechnet 22.000 US-Dollar damals so hoch dotiert ist wie keine andere Auszeichnung für Schriftsteller abgesehen vom Nobelpreis. Vargas Llosa erhält ihn für seinen zweiten Roman Das Grüne Haus und hält bei der Verleihung in Caracas im August 1967 eine Rede, deren Kernsatz „Literatur ist Feuer“ lange nachhallt. Das Medienecho auf den 31-jährigen Preisträger ist gewaltig. In Caracas begegnen sich Vargas Llosa und Gabriel García Márquez, der gerade seinen magisch-realistischen Roman Hundert Jahre Einsamkeit herausgebracht hat, erstmals persönlich. Es ist der Beginn einer inspirierenden Freundschaft, die aber Mitte der 70er Jahre zerbrechen wird. Beide halten in September in Lima ein öffentliches Gespräch über ihre Projekte und Rollen als Exilschriftsteller.2 Im selben Monat bringt Patricia Llosa ihr zweites Kind zur Welt. Es erhält den Namen Gonzalo, denselben wie der Zweitgeborene von García Márquez.

Von London aus bereist Vargas Llosa im Jahr darauf zahlreiche Länder, darunter Russland anlässlich einer Veranstaltung zu Ehren Puschkins. Die Alltagseindrücke in Moskau unterhöhlen seine sozialistischen Überzeugungen. Im September 1968 übernimmt er eine Kurzzeit-Dozentur an der Washington State University in Pullman, danach an der Universität von Puerto Rico. Im Jahr 1969 wechselt Vargas Llosa in London ans King’s College, das mehr Arbeit bei höherem Gehalt bot. Im November erscheint sein dritter Roman Das Gespräch in der ‚Kathedrale‘ bei Seix Barral. Trotz aller Erfolge kann sich die Familie nicht viel leisten: „In meiner einstigen Londoner Wohnstatt gab es keinen Fernseher, jedoch ein Radio. Wir gingen nur einmal aus pro Woche, jeweils am Samstagabend ins Kino oder ins Theater. Aber allen Engpässen zum Trotz waren wir ziemlich glücklich“, schreibt Vargas Llosa. Nur sein Reinlichkeitsbedürfnis, das er von seiner Mutter geerbt hat,3 wird in London auf die Probe gestellt: in Gestalt von Ratten im Hyde Park und auch im Wohnumfeld. Seine Phobie vor diesen Nagetieren wird Vargas Llosa in seinem letzten Erzählwerk Le dedico mi silencio (dt. Die große Versuchung) literarisieren.

Sein Vorgesetzter, der Geschichtsprofessor Jones, schlägt ihm vor, im darauffolgenden Jahr eine Dozentur in Cambridge zu vertreten. Diesen Posten hätte er auch übernommen – wenn nicht zur selben Zeit die Literaturagentin Carmen Balcells, die Vargas Llosa von Besuchen bei seinem Verlag in Barcelona kannte, aufgekreuzt wäre. „Ich möchte, dass du sofort deine Stelle an der Universität kündigst und auch abschliesst mit England“, soll sie ihm bei ihrem Besuch in London gesagt haben. Sie habe bereits Gabriel García Márquez aus Mexiko geholt, „ihr alle müsst nach Barcelona kommen und euren Lebensmittelpunkt fortan dort einrichten. Ich versichere dir, du könntest von deinen Büchern leben; ich kümmere mich darum.“ Dem Peruaner scheint das Ansinnen, von literarischen Tantiemen zu leben, töricht, weil er bisher zwei bis drei Jahre für einen Roman braucht. „Diese Zeit zu verkürzen auf vielleicht ein halbes Jahr pro Buch, um meine Familie zu ernähren, würde meine Literatur unweigerlich unleserlich machen“, denkt er. Doch Carmen Barcells stimmt ihn um, indem sie ihm ein Honorar in gleiche Höhe wie seine Universitätsbezüge verspricht. Nach am selben Tag teilt er Professor Jones mit, dass er nach Barcelona gehen werde, um dort von seinen Büchern zu leben.4 => nächste Station

1990er Jahre

Als sich Vargas Llosa 1990 nach der Niederlage bei der Präsidentschaftswahl von Peru abwendet, suchen er und seine Frau Patrica die britische Hauptstadt auf. Ihr Zweitwohnsitz war London schon länger: Sie hatten eine Wohnung am Montpelier Walk 34, im dritten Stock des „Cheval House 30“, erworben, nachdem die Familie 1974 von Barcelona nach Lima übergesiedelt war. Der Aufenthalt in den 1990er Jahren ist gleichwohl von längeren Lehr- und Forschungstätigeiten in den USA und auch in Berlin unterbrochen, außerdem werden die Verbindungen nach Madrid immer stärker, wohin das Ehepaar gegen Ende des Jahrzehnts umzieht => nächste Station.

  1. Mario Vargas Llosa in seiner Kolumne Piedra de toque in der spanischen Zeitung El Pais, zitiert nach der Übersetzung in der schweizerischen Aargauer Zeitung, 2019. ↩︎
  2. José Miguel Ovideo: Mario Vargas Llosa: la invención de una realidad. Seix Barral, 1982, S. 42 ff. ↩︎
  3. „Nach er Leidenschaft, die sie für meinen Vater empfand, waren die anderen Leidenschaften meiner Mutter Sauberkeit und Ordnung. Die erste der beiden habe ich von ihr geerbt: Schmutz its mir unerträglich; Ordnung ist hingegen nie meine Stärke geweseen, außer bei allem, was mit dem Schreiben zusammenhängt“ MVLL: Der Fisch im Waser. S. 193. ↩︎
  4. MVLL: Piedra de toque, 2019. ↩︎