Mitte 1937 – Ende 1945
Vom zweiten bis zu seinem neunten Lebensjahr wohnt Mario Vargas Llosa mit der Großfamilie seiner Mutter im Zentrum der bolivianischen Stadt Cochabamba, im Haus Ladislao Cabrera 168. Das einstöckige Anwesen aus dem frühen 20. Jahrhundert steht heute noch, die Fassade und die hohe Eingangsdiele sind allenfalls farblich verändert. Nicht geblieben sind die Bäume, darunter ein Pacay, im vorderen Innenhof, in dem der Junge zusammen mit seinen Kusinen und Kameraden Abenteuer aus dem Sonntagskino (Tarzan) und seinen Lieblingsbüchern nachspielte. An einer Seite des Hofs befand sich hinter Säulen eine Terrasse, wo der Großvater Pedro seine Siesta im Schaukelstuhl zu halten pflegte. Weiter hinten gab es zwei kleinere Patios, unter anderem für eine Ziege und Hühner, diese wurden genauso wie der Säulengang von den späteren Besitzern zugebaut.
Eingeschult wird Mario bereits mit fünf Jahren, also 1941, im Collegio La Salle, weshalb er jünger als seine Klassenkameraden ist. Angeblich entscheidet die Mutter wegen seiner Streiche, ihn so früh auf die Schule zu schicken. Der tägliche Fußweg zehn Häuserblocks weiter bis zur Calle Mayor Rocha führt durch die Tore an der Plaza Metropolitana und „war eine Entdeckungsreise voller Erlebnisse“, wie Vargas Llosa einmal schreibt: „Natürlich war es ein Muss, unterwegs in den Schaufenstern der Buchhandlungen und in den Kinos vorbeizuschauen. Das Beeindruckendste, was uns passieren konnte, war die Begegnung mit der imposanten Gestalt des Bischofs auf der Straße, der in seinem purpurnen Gewand, seinem weißen Bart und seinem großen phosphoreszierenden Ring olympisch, ja halbgöttlich wirkte. Voller Ehrfurcht und mit einem Hauch von Angst knieten wir nieder, um ihm die Hand zu küssen, und empfingen die zwei oder drei liebevollen Worte, die er uns mit seinem starken italienischen Akzent entgegenschmetterte.“1
Bücher und Meer
Der Lehrer, bei dem Mario an der Grundschule lesen lernt, ist Bruder Justiniano, dessen Methode mehrere Sinne anspricht: „Er ließ uns die Buchstaben singen, einen nach dem anderen, und dann buchstabierten wir an den Händen haltend, in Runden, identifizierten die Silben in jedem Wort, reproduzierten sie und lernten sie auswendig. Von den farbigen Silbenbüchern mit kleinen Tieren ging es weiter zum kleinen Buch der heiligen Geschichte und schließlich zu den Karikaturen, Gedichten und Geschichten.“2 Seine Nobelpreisrede 70 Jahre später wird der Schriftsteller mit einer Reverenz an diesen Unterricht eröffnen, um zu betonen, „wie diese Magie, die Worte der Bücher in Bilder zu übersetzen, mein Leben bereichert hat.“3
Stundenlang versenkt sich der Junge meist in Abenteurgeschichten, doch das ist nicht die einzige Freude jener Jahre. Er lädt seine Freundesschar nach Hause ein, unternimmt Ausflüge nach Cala-Cala und Tupuraya, Zirkus- und Kinobesuche, Wasserschlachten zu Karneval und fiebert Weihnachten mit Wünschen an das Christkind entgegen. Fast gleichzeitig mit dem Lesen lernt er Schwimmen, indem ihn sein Lieblingsonkel Lucho zu Cochabambas Bädern Berveley und Urioste mitnimmt. Das wird der Sport, der ihm am meisten liegt, und hierzu passt eine Leidenschaft fürs Meer, welches der Neunjährige kennenlernt, als die Familie nach Piura umzieht (=> nächste Station). Am Strand von Camaná drängt er darauf, den Wagen anzuhalten, damit er sich ins Wasser stürzen kann. „Meine Meerestaufe war nicht sonderlich erfolgreich, denn ein Krebs bis mich in den Fuß. Dennoch hat diese Liebe auf den ersten Blick, die die peruanische Küste mir eingeflößt hatte, fortgedauert.“4 Bis in die Jugend hinein hegt Mario den Wunsch, Seefahrer zu werden, weshalb er trotz des Drills im Militärinternat, das er mit 14 bis 16 Jahren besucht, sogar erwägt, sich für die Marineschule zu bewerben.
Hunde und andere Beißer
Der Krebs, der die Vereinigung des Knaben aus dem Hochland mit der See stört, ist nicht der einzige Aggressor jener Lebensphase. Vargas Llosa entsinnt sich zweier Negativerlebnisse in Cochabamba: eine Operation, bei der ihm Doktor Sáenz Peña die Mandeln herausschneidet, und die Dogge eines Nachbarn, die sich eines Abends losreißt und dem Jungen auf der Straße den Hosenboden zerreißt. „Der Biss war oberflächlich, aber die Aufregung, mitsamt den dramatischen Schilderungen, die ich den Schulkameraden von dem Vorfall gab, dauerte Wochen.“5 Hunde werden ein Leitmotiv in der frühen Prosa von Vargas Llosa. Sie sind titelgebend für seinen Roman über die Kadettenschule, in der die Neulinge von der älteren Jahrgängen als Hunde beschimpft und unterdrückt werden (Die Stadt und die Hunde), und seine Erzählung über einen Heranwachsenden, den ein Hund kastriert hat (Die jungen Hunde).
- Extemporáneos: Semilla de los sueños. ↩︎
- Ebenda. ↩︎
- Mario Vargas Llosa – Nobelvorlesung ↩︎
- MVLL: Gegen Wind und Wetter. Literatur und Politik, übersetzt von Elke Wehr. Suhrkamp 1988, S. 8. ↩︎
- MVLL: Der Fisch im Wasser, S. 24. ↩︎