1970-1974
In den südlichen Pyrenäen häufen sich Flurbezeichungen mit dem Namen „Llosa“. Es gibt das Tal „Vall de la Llosa“, durch das der „Riu de la Llosa“ fließt und wo die Burgruine „Castell de la Llosa“ steht, die Seen „Pantà de La Llosa del Cavall“ und „Estany de la Llosa“, den Berg „Grau de la Llosa“ in Andorra oder auf französischer Seite den Höhenpass „Col de la Llose“. Barcelona hat eine „Carrer de la Llosa“, weiter südlich finden sich ein Badeort „Platja de Llosa“ und, nahe Valencia, ein Dorf „La Llosa“. Aber auch im nordspanischen Asturien begegenet die Bezeichnung „Llosa“. Etymologen vermuten, dass das Wort einerseits vom lateinischen Clausus, geschlossen, etwa für ein umfriedetes Anwesen, herrührt, in anderen Fällen von einer keltischen oder vorrömischen Bezeichung für harten Stein.1
Die Vorfahren Vargas Llosas mütterlicherseits könnten also ihren Familiennamen aus dieser Richtung erhalten haben. Mit Katalonien und der Provinz Valencia, dem insofern möglichen Ursprung der mütterlichen Linie, verbindet den heranwachsenden Schriftsteller noch mehr. Obwohl hauptsächlich von französischen und nordamerikansichen Autoren angezogen, entdeckt er, als er mit Anfang 20 in Madrid studiert, die katalanische Ritterlegende „Tirant lo Blanc“ von Joanot Martorell als Vorläufer für den „totalen Roman“. Vargas Llosas erstes Buch, die Erzählsammung Die Anführer, erscheint in Barcelona, und in derselben Stadt wirkt der Lektor und Dichter, der das Potential des Debütromans Die Stadt und die Hunde erkennt: Carlos Barral. Bei Seix Barral bzw. später Barral Editores erscheinen diese und die weiteren Bücher des peruanischen Autors. Sein Werk habe eine geheimnisvolle Verbindung mit Barcelona, sagt er.2
Die katalanische Hauptstadt betritt Vargas Llosa erstmals 1958, als er mit dem Ozeandamper nach Europa übersiedelt und dort anlandet. Er hat zwei Tage Aufenthalt, bevor es mit dem Zug weiter nach Madrid geht. In den 48 Stunden, die er im gotischen Viertel verbrachte, habe er sich in die Stadt verliebt, erinnert sich der Schriftsteller und berichtet weiter:
Ich hatte bereits ein gewisses politisch-literarisches Bild von der Stadt aus einem Buch von Georges Orwell, das mich sehr beeindruckte, Hommage an Katalonien, in dem dieser seine Erfahrungen in den POUM-Milizen während des Bürgerkriegs erzählt. Ich erinnere mich, dass Orwells Buch in gewisser Weise der Reiseführer war, den ich nutzte, um diese Stadt kennenzulernen, wenn auch nur in einem ersten und raschen Eindruck. Meine Tour durch die Ramblas zum Beispiel fand unter der Erinnerung an die Bilder jenes turbulenten Barcelona statt, das sich dem Vormarsch der Nationalen widersetzte und in dem sich Kommunisten und Anarchisten und Trotzkisten im Stadtzentrum erschossen.3
Barcelona stand, so beschreibt Vargas Llosa seine Eindrücke aus jenen Jahren in der Franco-Ära weiter, im Ruf, ein weltoffener Gegenpol zu Madrid zu sein, sowohl in kultureller wie politischer Sicht. Zwölf Jahre später, im Frühjahr 1970 lässt er sich mit seiner Frau Patricia und ihren kleinen Kindern Alvaro und Gonzalo in der katalanischen Hauptstadt nieder – angeworben, wie andere lateinamerikanische Autoren auch, von der Literaturagentin Carmen Barcels. Den Umzug aus London bewältigt die Familie per Auto; zunächst bezieht sie eine Wohnung an der Via Augusta und dann an der Calle Osio 50 im Viertel Sarrià. Dort lebt in unmittelbarer Nachbarschaft an der Calle Caponata 6 Garcia Marquez, der damals innige und kongeniale Freund des Peruaners. In beiden Haushalten trifft sich die litarische Szene zu abendlichen und nächtlichen Runden, jemand erfindet den Scherz, die Wohnungen wären durch eine geheimen Gang verbunden, denn er komme vor, dass die Abendgesellschaft in der einen beginne und in der anderen ende.4
„Wenn ich eine Zeit wählen müsste, um sie von Anfang bis Ende noch einmal zu erleben, wäre es die in Barcelona Anfang der siebziger Jahre“, sagt Vargas Llosa. Das Viertel Sarrià sei damals noch nicht ganz in die Großstadt integriert gewesen, weshalb es dort ein Dorfleben gegeben habe. „Man konnte, wenn man durch die Nachbarschaft ging, zum Beispiel die Konditorei von Josep Vicenç Foix erreichen und den großen Dichter dort hinter seiner Theke sehen.“ Er selbst habe wie immer diszipliniert morgens und nachmittags im Haus gearbeitet, aber sei jeden Abend ausgegangen. „In Barcelona wurde ein sehr intensives Kaffeehausleben gepflegt. Und ich besuchte auch die Restaurants: La Puñalada, El Amaya und ein kleines Restaurant in Sarria, das La Font dels Ocellets hieß, an das ich sehr gute Erinnerungen habe.“5 In letztgenanntem Lokal war es Brauch, dass man seine Bestellungen auf einem Formular aufschreiben musste; einer Anekdote zufolge hatten dies eines Abends Vargas Llosa und seine Dichterkollegen vergessen, sodass der Kellner den unsterblichen Satz sagte: „Kann einer von Ihnen schreiben?“6
Weitere Stammlokale der Boom-Autoren waren das „Flash Flash“, das „Set Portes“ und der „Giardinetto“. 7 Auch „Los Caroles“, eines der ältesten Restaurants der Stadt, war unter den Schriftstellern beliebt.8 Treffpunkt der Künstler- und Intelektuellenszene, die sich als Gauche divine (göttliche Linke) bezeichnete, war schließlich das Tanzlokal „Bocaccio“, in dem Vargas Llosa jedoch kaum verkehrte. Von Weggefährten wird er auch in dieser Zeit, in der zwar er ein geselligeres Leben als in London oder Paris führte, als ernster Typ beschrieben, der im Gegensatz zu anderen nur wenig Alkohol trank.
Neben Vargas Llosa und Garcia Márquez lebte als prominenter lateinamerikanischer Autor José Donoso in Barcelona, während Carlos Fuentes, Julio Cortazar, Juan Carlos Onetti und Roa Bastos oft zu Besuch sind. Das Besondere an der Zeit war auch die Gemeinschaft von lateinamerikanischen und spanischen Schriftstellern. Zu nennen sind Álvaro Mutis, Sergio Pitol, Félix de Azúa, Salvador Clotas, Juan Garcia Hortelamo, Jorge Edwards und Guillermo Cabrera Infante. Von seinen damaligen Freunden und Vorbildern hebt der Peruaner die katalanischen Dichter Enrique Badosa, José Maria Castellet, Gabriele Ferrater, Jaime Gil de Biedma, Manuel Vázquez Montalbán und Josep Pla hervor (DiS 174 ff.). Für die nachwachsende Generation spanischsprachiger Autoren waren Vargas Llosa und Garcia Marquez ein Anziehungspunkt und Türöffner zur Verlagswelt.9 Zu den Gästen jener Zeit zählt auch der deutsche Schriftsteller Hans-Magnus Enzensberger. Er ist dabei, als 1971 in der Wohnung von Vargas Llosa mehrere Autoren einen Brief formulieren, um Fidel Castros Umgang mit dem kubanischen Dichter Herberto Padillo zu brandmarken.
Die Kultur galt in Franco-Diktatur, auch wenn diese in ihrer Spätphase weich und löchrig geworden war, weithin als etwas Wichtiges, als „bessere Art und Weise für einen jeden Menschen, sein Leben zu organisieren, nämlich kreativer, ethischer, freier demokratischer“ – womit allerdings auch ein kultureller Snobismus einherging, erinnert sich Vargas Llosa. Die Zensur wurde umgangen, indem Buchhandlungen auf den Ramblas unterm Verkauftresen marxistische und andere verbotene Schriften anboten, oder man fuhr ins französische Perpignan oder nach Andorra, um verbannte Bücher zu kaufen oder Filme zu sehen (DiS S. 189 f.). Eine gewisse Freiheit vom Franco-Regime genoss das Kloster Montserrat oberhalb Barcelonas, welches als Hort der katalanischen Kultur gilt. Dort findet im Dezember 1970 aus Protest gegen die ETA-Prozesse in Burgos ein Treffen von etwa 300 Intelektuellen statt, an dem auch Vargas Llosa teilnimmt.
In Barcelona kann sich Vargas Llosa erstmals im Leben dem Schreiben widmen, ohne einem Nebenverdienst oder bürgerlichen Beruf nachzugehen, da Carmen Barcels ihm ein Festgehalt im Gegenzug für die Rechten einen seinen werdenden Werken zahlt; nur am Anfang unterrichtet er noch ein Semester an der Autonomen Universität von Barcelona. Trotz dieses Freiraums beschleunigt sich seine Romanproduktion nicht: Es bleibt bei der Dauer von drei oder vier Jahren, die seine fiktionalen Werke benötigen; so erscheinen nach dem Londoner Hauptwerk Gespräch in der ‚Kathedrale‘ (1969) der nur etwa halb so lange Roman Der Hauptmann und sein Frauenbataillon im Jahr 1973 und das noch in Barcelona begonnene Buch Tante Julia und der Schreibkünstler 1977. Dafür verfasst Vargas Llosa in der Zeit zwei literaturtheoretische bzw. poetologische Abhandlungen, nämlich seine Disseration Garcia Marquez. Historia de un deicidio (1970) und La orgía perpetua. Flaubert y Madame Bovery (Die wilde Orgie, 1975). Sicherlich ist dies Ausfluss seiner Dozententätigkeit Ende der 60er Jahre, so wie auch der 1971 erschienene und auf einer Vorlesung in Princeton beruhende Bericht La historia secreta de una novela über die Entstehung seines zweiten Romas Das grüne Haus. Diesen Text sowie den über Flaubert schreibt er auf Mallorca.
In Barcelona wird Vargas Llosa zum dritten Mal Vater, seine Tochter Morgana kommt im Januar 1974 in der Klinik Dexeus zur Welt. „Ich hatte das Glück, das ich mit meinen ersten beiden Kindern erleben wollte, aber mir in Lima nicht erlaubt wurde, meine Tochter geboren zu sehen“, sagt er (DiS 177). Die Söhne sind bereits dem Kindergarten entwachsen und gehen inzwischen auf ein französischen Lyzeum in Wohnortnähe. Durch die Freunde aus der Nachbarschaft lernen sie Katalanisch zu sprechen. Familiäre Gründe und insbesondere der Wunsch von Patricia sind es wohl, die die Rückkehr nach Peru, wo die Großeltern der drei Kinder und die übrige Verwandschaft lebt, bedingen. Im Juni 1974 findet eine Abschiedfeier im Haus von Carmen Barcells statt, bevor die Familie mit dem Schiff nach Lima ablegt => Nächste Station
Mehrfacher Bruch
Auch Garcia Marquez wird im darauffolgenden Jahr mit seiner Familie nach Mexiko, seinem vormaligen Wohnort, zurückzukehren, womit Barcelona seine wichtigsten Exponenten des „Booms“ lateinamerikanischer Literatur verliert. Anfang 1976 zerbricht zudem die Freundschaft zwischen den beiden Autoren. Als Garcia Marquez am Rande einer Filmvorführung in Mexiko-Stadt auf Vargas Llosa zugeht, um ihn zu begrüße, streckt dieser ihn mit einem Faustschlag unter das Auge nieder. Weshalb er das tat, dazu erklärt der Peruaner bis heute lediglich, der Grund sei rein privat und habe nichts mit dem an der Haltung zu Kuba entzündeten politischen Dissenz zu tun.
Der katalanische Journalist Xavi Ayén rekonstruiert die Motivlage in seinem 2019 erschienenen Buch über die „Boom“-Epoche. Demnach verliebt sich Vargas Llosa auf der Ozean-Passage in eine peruanische Mitreisende und nach der Ankunft in Lima erfahren Freunde und Bekannte, dass er sich von seiner Ehefrau getrennt hat. Als Patricia im Mai/Juni 1975 nochmals in Bareclona ist, um Dinge zu regeln, die beim Wegzug unerledigt geblieben sind, fährt sie Garcia Marquez nach einem bis tief in die Nacht währenden Restaurantbesuch zum Flughafen. Ob er dabei der verlassenen Frau ein unziemliches Angebot macht, bleibt auch in Ayéns Darstellung Spekulation. Wenig später finden Vargas Llosa und Patricia wieder zusammen. Als er im Januar 1976 den bisherigen Freund unvermittelt zu Boden schlägt, soll Vargas Llosa gesagt haben: „Dafür, was du Patricia in Barcelona getan hast.“10 Dieser Bruch ist endgültig: Garcia Marquez stirbt 2014, ohne dass sich die beiden Männer, die sich zeitweise wie Zwillingsbrüder aufeinander bezogen, versöhnt hätten.
- Siehe mas.lne.es ↩︎
- https://www.centroricardobsalinaspliego.org/rbsp-detalle/?contenido=119 ↩︎
- MVLL: El día que me instalé en Sarria. In: Arcadi Espada (Hrsg.): Dietario de posguerra. Editorial Anagrama: 1998, S. 173 (Übersetzung RM). ↩︎
- Xavi Ayén: Aquellos años del boom. García Márquez, Vargas Llosa y el grupo de amigos que cambiaron todo. Barcelona, 2019, S. 298. ↩︎
- MVLL: El día que me instalé en Sarria, S. 176 f. (Im Folgenden: DiS) ↩︎
- https://www.elperiodico.com/es/ocio-y-cultura/20101012/barcelones-vargas-llosa-530637 ↩︎
- Ayen: a.a.O. S. 308. ↩︎
- Siehe Ruta Ñ ↩︎
- J.J. Armas Marcelo: Vargas Llosa. El vicio de escribir. Ediciones temas de hoy: 1991. S. 65. ↩︎
- Ayen: a.a.O. S. 484 ff. ↩︎